Foscarini — Vite
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fortzusetzen.“ Bevor Antonello und Gennarina diese
Wohnung gefunden haben, wohnten sie nicht weit von hier
zur Miete in einem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, riesige
Zimmer, niedrige Miete, aber kein Licht. Also begannen sie zu
suchen: Viele Monate wohnten sie zur Miete, zogen immer
wieder um, auf der Suche nach einer Wohnung, die sie kaufen
wollten, bis sie schließlich ganz in der Nähe ihrer ersten
fündig wurden. Die Wohnung bietet Blick auf den Dom, man
sieht sogar ein Stück Meer, die Fenster blicken direkt auf den
Complesso dei Girolamini gegenüber. „Sieben Monate lang
waren wir während unserer Suche urbane Nomaden. Dann
folgten langwierige, schwierige Renovierungsarbeiten und
diese Schwierigkeiten haben uns zunächst ein wenig
verängstigt, aber dann haben sie uns stärker gemacht. Das
war ein Aufatmen in diesem Licht, wir haben uns genährt von
diesem Licht, das hier hereinfällt, und wir nähren uns noch
immer davon.“ Die Mitglieder dieser Familie sprechen oft im
Chor, die Tochter studiert in Madrid, der Sohn ist an der
Schauspielschule und hat bereits die ersten Auftritte, die
beiden Eltern sind begeistert, erzählen voller Freude, ihre
Energie ist ansteckend. „Ein Haus, eine Wohnung“, meint
Antonello, „muss immer eine Baustelle sein. Das ist mein
Konzept eines Zuhauses. Man muss die Möbel wechseln,
Sachen umstellen, um sich anders zu fühlen, um sich
beständig zu verändern.“ Gennarina nickt. „Ich versuche,
einen Raum zu bewohnen, ohne ihn um jeden Preis mit
Dingen zu füllen, die zentralen Bedürfnisse im Blick zu halten
und nicht zuzulassen, dass sich zu viel ansammelt.“ Die
Wohnung als Ort zum Nachdenken, meinen beide und beide
haben beruflich mit Kunst zu tun. „Wenn ich aus dem Fenster
auf den Complesso dei Girolamini schaue, denke ich an all die
Menschen, die hierhergekommen sind, um zu studieren, um
in den Büchern zu stöbern. Die Anlage umfasst eine der
bedeutendsten historischen Bibliotheken der Welt, außerdem
drei Kirchen, den Kreuzgang ‚der Orangen‘ und eine
Bildergalerie.“ Die beiden haben eine Wohnung gekauft, die
vielleicht nicht für immer ist, aber die ihnen sehr ans Herz
gewachsen zu sein scheint. „Vor allem am Nachmittag, und
natürlich im Sommer, strömt hier so viel Licht herein, dass du
dich dagegen wehren musst. Dann ist es schön, im kühlen
Halbschatten zu wohnen, aber mit der Gewissheit, dass das
Licht, das wir so lange gesucht haben, da ist, dass wir es
aussperren, weil wir das so wollen, aber dass wir nur die
Fensterläden zu öffnen brauchen, damit es wieder
ungehindert eindringt.“ Bis sie früher oder später wieder
aufbrechen werden.
DE s.441
SCHULD IST DIESES POSTER
AN DER UNIVERSITÄT
In meinem Dorf, fern von Hollywood, träumten wir als Jungen
alle davon, eine Pistole zu besitzen und uns im Stil von John
Wayne am Ausgang eines Saloons zu duellieren, wir träumten
davon, als Vorstadtbanditen auf Motorrädern durch die
Straßen von Kalifornien zu jagen oder als britische Spione die
Casinos der Welt zu besuchen, wir träumten von der Welt des
Kinos, als Jungen, aber niemand in meinem Dorf dachte je
ernsthaft, Schauspieler werden zu können. Es gab Träume,
die man als Junge aus einem süditalienischen Dorf gar nicht
erst den Mut hatte, zu träumen; als ich ein Junge war, hätte
niemand je behauptet, dass es möglich sei, wirklich
Schauspieler zu werden, das Schauspielen als Beruf zu
wählen. Jacopo hingegen hat genau das getan. Er hatte das
Glück, als Kind mehrere Jahre mit seiner Familie in San
Francisco gelebt zu haben und dadurch zweisprachig
aufgewachsen zu sein, doch dann schien ihn das Leben
woanders hinzuführen: in die Welt des Verlagswesens und der
Literaturkritik, nach Europa. „Es ist seltsam, wenn ich jetzt
darüber nachdenke, aber während meiner Studentenzeit in
Paris hatte ich in meinem Zimmer ein Poster vom Flatiron
Building hängen. Und als ich die Uni dann abgeschlossen
habe, hat man mir ein Praktikum bei Picador angeboten,
direkt im Flatiron.“ Und so macht sich dieser halb italienische,
halb amerikanische Junge auf, New York durch die Vordertür
zu erobern: als brillanter Praktikant in einem der wichtigsten
US-amerikanischen Verlagshäuser, mit Sitz im Herzen
Manhattans, in einem der berühmtesten Gebäude der Welt, in
einem Verlagshaus, das ihn am Ende seines Praktikums sogar
anstellt. Aber im echten Leben läuft eben nicht immer alles
so, wie wir uns das vorstellen, weder in Italien noch in
Nordamerika. „Als dann die Finanzkrise kam, wurden viele
Leute entlassen. Auch ich. Plötzlich stand ich ohne Job in
Manhattan. Das war nicht einfach, aber ich sagte mir, dass es
noch nicht zu spät für mich sei, zu dem zurückzukehren, was
seit jeher meine Leidenschaft gewesen war: dem
Schauspielen. Ich bin zu Vorsprechen gegangen, wurde in
einer berühmten Schule aufgenommen und so habe ich
angefangen.“ Vor kurzem hat Jacopo eine Wohnung gekauft,
eine schlichte, saubere, elegante Wohnung direkt gegenüber
einer Grundschule in Harlem. Das Einzige, was man hier hört,
ist das Lärmen der spielenden Kinder. New York befindet sich
in einem kontinuierlichen Wandel, weiß stets zu überraschen.
Wer weiß, wie diese Straße ausgesehen hat, als ich ein Junge
war, in den neunziger Jahren, was für ein Chaos hier wohl
geherrscht hat, was für ein Großstadtdschungel das wohl war,
wer weiß, wie sie ausgesehen hat, bevor sie zu der relativ
ruhigen Wohngegend wurde, die sie heute ist. „Ich habe in
den vergangenen Jahren in entsprechend vielen Stadtteilen
gewohnt. Wie auch andere Aspekte meines Lebens war das
eine echte Achterbahnfahrt, als ob ich unterschiedliche
Leben gelebt hätte, mit Höhen und Tiefen. Nach der Zeit im
Verlagshaus habe ich als Kellner in Brooklyn und im East
Village gearbeitet. Ich habe vor zehn Jahren in Brooklyn
gelebt, als der Stadtteil noch nicht besonders modern war,
ich hatte zwei Mitbewohner. In Soho habe ich dann mit fünf
anderen zusammengewohnt, von dort bin ich ins East Village
und dann weiter auf die Upper West Side. Irgendwann bin ich
dann wieder bei meinen Eltern eingezogen, weil ich keine
Bleibe hatte. Es war seltsam, es war anstrengend, aber
vielleicht war es notwendig. An einem Abend habe ich in dem
Restaurant, in dem ich arbeitete, Barack Obama bedient.
Heute geht es mir gut hier, ich habe das Gefühl, dass es
meiner Arbeit gut tut, dass ich eine eigene Wohnung habe, es
ist, als ob ich zum ersten Mal ein Gleichgewicht gefunden
hätte.“ Vorausgesetzt, dass nicht eines Tages ein Anruf aus
Los Angeles kommt, das wundervolle Risiko, das für alle
Schauspieler besteht. „Wer weiß. Vielleicht werde ich
irgendwann mit einem Fuß hier, mit einem Fuß dort leben
müssen. Ich glaube nicht, dass LA die richtige Stadt für mich
ist, es würde mir zum Beispiel nicht gefallen, die ganze Zeit
mit dem Auto unterwegs zu sein, aber letztlich entscheidet
bekanntlich der Job. Natürlich, in gewisser Hinsicht –
vielleicht ist dieses Poster an der Uni daran schuld, wer weiß
– aber in gewisser Hinsicht, wohin auch immer es mich als
Schauspieler verschlägt, in gewisser Hinsicht werde ich
immer New Yorker sein.“.
DE s.479
EINE LIEBESGESCHICHTE
WIE IM FILM
Es gibt Liebe, die nach kaum mehr als einem ersten Blick
erblüht, das wissen wir aus Filmen, das zeigt das Leben. Es
kommt nicht oft vor, aber es kommt vor. Anthia hat sich auf
den ersten Blick in ihren Lebensgefährten verliebt, im Alter
von vierzehn Jahren. Wenige Monate später trennten sich die
beiden. Als Anthia einundzwanzig war, trafen sie einander am
Bahnhof von Hongkong wieder. Allerdings waren beide in
einer Beziehung. Nach fünfundzwanzig Jahren kreuzten sich
ihre Wege erneut in seiner Bar in Shanghai. Auch damals
waren beide in einer Beziehung, aber wie wir aus Märchen
und Filmen wissen, gewinnt letztlich immer die Liebe und so
kamen Anthia und ihre Jugendliebe schließlich wieder
zusammen und Anthia zog nach Shanghai. „Langsam beginne
ich mich auch in die Stadt zu verlieben“, meint sie. „Es hat ein
Jahr gedauert, bis ich eine Wohnung gefunden habe, die mir
gefällt, aber jetzt habe ich eine. Ich wohne in einem
geschichtsträchtigen Haus, was ungewöhnlich ist in einem
Land, in dem sich alles so schnell wandelt, von einem Monat
zum nächsten, in dem irgendwie ein beständiges,
rauschhaftes Streben in Richtung Zukunft herrscht.“ Das
Gebäude, in dem Anthia heute wohnt, wurde von einem Mann
mit einer außergewöhnlichen Geschichte erbaut: Ellice Victor
Elias Sassoon, geboren in Neapel und gestorben in Nassau,
sephardischer Jude mit irakischen Wurzeln, dritter Baronet
von Bombay, im Ersten Weltkrieg im Kampf verwundet.
Bekannt als herausragender Geschäftsmann ließ Sassoon
Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts das Peace Hotel und
zahlreiche weitere wunderbare Gebäude in Shanghai
erbauen. „Sir Sassoon war Reisender, Fotograf, Philanthrop.
Er half vielen Juden in Shanghai, den Verfolgungen zu
entkommen. Er war ein Mann von Welt und ich habe das
Gefühl, hier im Zentrum der Welt zu sein. Von den Fenstern
meiner Wohnung aus sehe ich den Oriental Pearl Tower, das
alte Postgebäude, einige der Brücken, die über den Fluss
führen. In Shanghai kann es dir passieren, dass du fast ein
wenig das Gefühl hast, in Europa zu sein. Du siehst hier
Gebäude im Jugendstil, Gebäude unterschiedlichster
europäischer Architekturstile, aber gleichzeitig auch
unglaublich viele moderne Gebäude, die Geschichte ist nie
übermächtig.“ Die Bar von Anthias Lebensgefährten besteht
seit vierundzwanzig Jahren und zählt damit zu den ältesten
der Stadt. „Wir sind mit Leuten aus der ganzen Welt
befreundet, die seine Bar besuchen. Ich habe mein ganzes
Leben in Hongkong gelebt, wo man mit wenig Platz
auskommen muss. Meine Wohnung hier ist riesig und geht
Richtung Osten. Jeden Tag sehe ich den Sonnenaufgang und
jeden Tag hat er eine andere Farbe.“ Ein Umzug aus Liebe, ein
Sich-Verlieben in eine neue Stadt, das ist die Geschichte von
Anthia. „In Hongkong habe ich für BBC World gearbeitet und
natürlich fehlt mir dieses Leben, fehlt mir die Welt der News,
das Leben inmitten eines kontinuierlichen Stroms an
Nachrichten. Die Pension war eine große Veränderung für
mich. Aber ich genieße diese Energie in China, diesen
beständigen Wandel. Shanghai ändert sich kontinuierlich, es
gibt eine Menge Projekte, die historischen Gebäude werden
renoviert. Hinzu kommt, dass die jüngere Generation viel
Energie in ihr Studium steckt und viel reist, sie fahren in alle
möglichen Länder, um dort zu studieren. Ich glaube, dass in
Zukunft noch mehr Europäer Shanghai besuchen und auch
hierherziehen werden.“ Vielleicht nicht alle wegen einer alten
Jugendliebe, denn Märchen dieser Art sind selten, aber
vielleicht aus Liebe zu dieser Stadt, die auf eine so lange
Geschichte zurückblickt und zugleich so stark in Richtung
Zukunft strebt.
Texts by Flavio Soriga
German
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