Foscarini — Vite
Translations
wohlzufühlen. Ich würde mich so bezeichnen: einfach,
beharrlich, logisch, raffiniert.“ Und Shanghai? Wie würdest du
die Stadt, in der du lebst, bezeichnen? „Sie ist anders als
andere internationale Städte. Für den chinesischen Standard
ist Shanghai sehr international, für den weltweiten Standard
ist Shanghai sehr chinesisch. In anderen Worten: Die zwei
Kulturen (die westliche und chinesische) haben beide sehr
tiefe Wurzeln in Shanghai. Die Stadt war so in der
Vergangenheit und ist auch weiterhin so. Ich glaube, dass sie
auch in Zukunft so sein wird.“ Ist es eine Stadt, die zu einem
einfachen, jedoch raffinierten Menschen passt? „Ja, ich mag
sie sehr. Komfortabel, vereinbar (sowohl alt als auch neu),
einladend, frisch, stärkend. In Shanghai gibt es viele
Veranstaltungen und neue Orte, die ständig eröffnen. Ich
denke, dass das dazu beiträgt, die Leute auf die Stadt
neugierig zu machen. Ich gehe hinaus, erforsche, untersuche
diese Neuheiten und während dieses Vorgangs bin ich oft
langsam dabei, etwas über die Dinge und die Ereignisse der
Vergangenheit zu entdecken. Die Vergangenheit ist nie
vergangen, meinte Faulkner, denn die Vergangenheit ist ein
Teil von dem, was wir sind. Sie spielte eine Rolle in der Welt,
die wir erbten, in der Gegenwart. Im Grunde gibt die
Vergangenheit nur vor, nicht mehr zu sein, jedoch spiegelt sie
sich auf ihre Art in uns, in unserem Leben, in unseren
Gesichtern, in den Gebäuden, die wir bewohnen, wider. Das
galt in den Vereinigten Staaten zu Faulkners Zeiten, das gilt
noch heute in Shanghai, einer sich ständig verändernden
Stadt, die ihren Blick vollkommen in die Zukunft richtet.
DE s.355
ALS WÄRE DIE STADT JEDEN ABEND ZU GAST
Olya begrüßt mich mit einem Lächeln, als ich ihre Wohnung
betrete. Sie ist eine schöne, attraktive Frau, ihre Kleidung ist
von „schlichter Eleganz“, wie man, denke ich, in einer
Modezeitschrift schreiben würde. Alles ist schlicht in dieser
großen Küche, „less is more“ scheint in großen Lettern an der
Wand zu stehen, ich denke, dass diese Regel für Olyas
gesamtes Leben gilt: für ihre Kleidung, die Einrichtung, das
Essen, die Gespräche, das Einkaufen, den Ärger, alles. Olyas
Lebensgefährte ist groß und hat kurze Haare, beendet gerade
ein spätes Frühstück, macht sich einen schwarzen Kaffee und
verlässt das Haus. Die Wohnung wirkt vollkommen normal,
aber sie ist es nicht. Sie wäre es vielleicht – gemessen an den
Standards in Chelsea, Manhattan, New York – wenn da nicht,
zusätzlich zur Küche, das Wohnzimmer wäre, ein großer, aber
normaler Raum, mit der Ausnahme, dass er auf eine Straße
blickt, die eben nicht normal ist. Bevor diese Straße gebaut
wurde, verlief hier die Trasse der Hochbahn, die quer durch
Manhattan führte, heute befindet sich an ihrer Stelle ein
langgezogener Park, der auf der ganzen Welt bekannt ist,
eine dieser Sehenswürdigkeiten, die man in New York
unbedingt gesehen haben muss, ein lebendiges Denkmal der
Eisenbahnarchitektur der dreißiger Jahre, ein langer
Spazierweg quer durch die Stadt. High Line Park heißt er und
führt direkt an Olyas Wohnzimmer vorbei.
„Fünfundzwanzigtausend Personen gehen täglich hier vorbei,
aus diesem Grund habe ich diese Wohnung gekauft, weil man
hier den Augen der Stadt ausgesetzt ist. Es ist ein
kontinuierliches Ausgesetzt-Sein, ich wache auf, mache mir
einen Kaffee und frühstücke, direkt vor den Menschen, die
vorbeigehen und zu mir hersehen. Das ist etwas, das mir
frische Kraft gibt, die Energie fließt von der Straße zu mir, sie
tut mir gut.“ In dem südeuropäischen Dorf, aus dem ich
komme, sind Vorhänge etwas, das in keinem Haus fehlen
darf, auch nicht in einem Dorf, in dem sich alle kennen.
Gerade in den Dörfern ist es wichtig, dass die Häuser Inseln
sind. Die Vorhänge sind Mauern, sie schützen vor neidischen,
böswilligen oder klatschsüchtigen Blicken, man muss sein
Leben verstecken, nie dürfen Fremde ins Haus sehen – genti
allena, wie meine Großmutter in unserer Sprache all jene
nannte, die nicht zur Familie gehörten und die ihren Blick
nicht auf uns richten durften, wenn sie nicht eingeladen
waren, wenn wir uns zuvor nicht entsprechend vorbereitet
hatten. Olya hingegen hat diese Mauern niedergerissen, die
Vorhänge abgenommen, die Barrieren entfernt und
beschlossen, in einem Teil ihrer Wohnung wie auf einer
ewigen Bühne zu leben, hat akzeptiert, dass kontinuierlich
fremde Blicke auf ihren Teil des Hauses, auf ihr Leben
gerichtet sind. „Es ist, als wäre man Teil der Stadt und ihres
Spektakels“, meint sie. „Es ist eine interaktive Art zu leben.
Mein Lebensgefährte und ich haben beschlossen, diesen
Vorführraum mit unseren Freunden zu teilen. Wir organisieren
Mottoabende, die Leute haben Spaß, auf unseren Feiern
drehen alle ein bisschen durch, manchmal nutzen wir die
Wand unseres Wohnzimmers als Leinwand, auf die wir
Arbeiten von jungen Künstlern projizieren, die wir toll finden.
Die Menschen gehen vorbei, machen Fotos, bleiben einige
Zeit, um uns zuzusehen, als wären sie ebenfalls Gäste, als
wäre diese Wohnung Teil des Spektakels der Stadt.“ Olya ist
vor fünfundzwanzig Jahren nach New York gekommen, sie
fühlt sich als New Yorkerin und weiß: Was auch immer ihre
Zukunft als Dokumentarfilmerin noch für sie bereithält, sie
wird immer wieder nach NY zurückkehren. „Diese Wohnung,
dieses Wohnzimmer war für mich, als würde ich Teil des
Ökosystems dieser Stadt werden, als könnte endlich auch ich
dieser Gemeinschaft etwas zurückgeben, die mir so viel
Kunst, Schönes, Energie geschenkt hat. Ich habe vor dieser
Wohnung viele andere besichtigt, darunter auch Entwürfe
berühmter Architekten, aber keine konnte mir das bieten. Die
anderen Wohnungen waren zwar wunderschön, aber nicht
mehr. Diese Wohnung ist einzigartig, ein Spektakel, das jeden
Tag in neuer Form zur Aufführung gebracht wird.“ Und davon
kann sich jeder selbst überzeugen: Sie brauchen nur auf den
High Line Park über dem Chelsea Market zu kommen und
nach ein paar Minuten vor Olyas Wohnung stehenzubleiben,
um Zuseher ihres öffentlichen und privaten Spektakels zu
werden, und obwohl Sie genti allena sind, ist Ihr Blick hier
willkommen, als ob man Sie eingeladen hätte.
DE s.389
EINE WUNDERSCHÖNE, UNGESCHMINKTE
STADT DES NORDENS
Tivoli, der zweitälteste Vergnügungspark der Welt, liegt
mitten im Herzen von Kopenhagen. Hierher kommt man auch
ohne Kinder, wegen der schönen Ringelspiele, der
Schießbuden, des Pantomimentheaters, um eiszulaufen,
einfach weil wir in jedem Alter gerne spielen. Tina lebt nur
wenige Schritte vom Tivoli entfernt, ihre Wohnung ist wie sie:
voller Leben, Ideen, Energie. Tina arbeitet für Mode- und
Einrichtungszeitschriften, sie hat ein Haus am Meer irgendwo
in ihrer Heimatregion, in Kopenhagen wohnt sie zur Miete.
„Ich hatte Glück mit dieser Wohnung“, meint sie. „Auf den
Anzeigenfotos wirkte sie sehr dunkel, aber als ich sie dann
gesehen habe, wusste ich sofort, dass sie perfekt war.“ Die
Wohnung ist groß und etwas unordentlich, es ist die typische
Unordnung derer, die wissen, dass Schönheit mehr zählt als
Geometrie. In Tinas Wohnung steht ein alter Kachelofen, die
Fenster sind groß, es gibt einen Balkon mit Grill und ein
Zimmer für ihre Kinder, für den Fall, dass sie für ein paar
Tage zu Besuch kommen oder auch ein paar Monate bleiben
wollen. „Als ich vor sechs Jahren eingezogen bin, war ich
gerade dabei, mich zu trennen. Ich spürte, dass es Zeit war,
nach Kopenhagen zu gehen, ich brauchte eine Wohnung in
der Nähe meiner Arbeit, ich wollte einen Garten oder einen
Balkon. Natürlich hatte ich nicht gehofft, einen mit Blick auf
das Stadtzentrum zu finden.“ Wir gehen auf den Balkon, es
nieselt, es ist feucht und kalt, wir sehen eine wahre Stadt des
Nordens an einem Arbeitstag, eiskalt und ungeschminkt.
Wir gehen zurück ins Wohnzimmer, Tina zeigt mir einige der
Zeitschriften, für die sie arbeitet. Ich frage sie, ob sie den
Eindruck hat, dass Design in Dänemark einen höheren
Stellenwert hat als anderswo. „Das hängt stark vom Alter ab.
Wenn du in die Wohnung eines Siebzigjährigen kommst, der
eine Leidenschaft für Design hat, kann es sein, dass du das
Gefühl hast, ein Museum zu betreten. Die Jüngeren hingegen
neigen mehr zu einem Mix, sie kaufen alte, wertvolle Objekte
und gleichzeitig viele preisgünstige Sachen, die ihnen ins
Auge gestochen sind. Ich würde sagen, dass die Menschen
heute Dinge suchen, die eine Geschichte haben. Ich war auf
einem Trödelmarkt, auf dem die Sachen maximal zehn Euro
kosteten, ich dachte, dass niemand dort sein würde, aber die
Menschen standen Schlange. Ich habe ein altes Puzzle
gekauft, ich wusste nicht einmal, ob Teile fehlten, aber mir
gefiel die Überlegung, wie viele Menschen vor mir dieses
Puzzle wohl schon gebaut hatten. Vielleicht hat das auch
damit zu tun, dass wir heute viel Zeit im virtuellen Raum
verbringen und letztlich das Bedürfnis haben, zu spüren,
dass in Gegenständen gelebtes Leben steckt. Heutzutage
kann Einsamkeit zu einem gewaltigen Problem werden.
Königin Margrethe hat das in ihrer Neujahrsansprache
thematisiert. Sie hat gesagt, dass wir uns dessen bewusst
sein müssen, dass wir heute Gefahr laufen, einsamer zu
werden denn je. Das war bewegend, denn sie hat vor zwei
Jahren ihren Mann verloren und es war klar, dass sie von der
Einsamkeit eines Menschen sprach, der alt wird und seine
Lieben sterben sieht, und auch von ihrer Einsamkeit als
Königin.“ Tina besucht Ausstellungen, Eröffnungen,
Modeschauen. „Im Leben hat man nie genug Freunde,
Menschen, die man bei sich haben will, wenn man müde ist,
wenn man wenig Lust zu reden hat. Man kann sich in einem
kleinen Dorf einsam fühlen, wenn man vielleicht keine
Verwandten mehr hat und im Café oder im Laden nebenan
immer denselben Menschen begegnet, aber ebenso in einer
Großstadt, auch wenn man immer unterwegs ist.“ Tinas Sohn
war ein Hoffnungsträger des dänischen Fußballs, hat es bis in
die Jugendnationalmannschaft geschafft, doch dann hat er
zur allgemeinen Überraschung beschlossen, das
Fußballspielen aufzugeben. Vielleicht hat er die Einsamkeit
– und die Angst – geahnt, die einen Stürmer überkommen
kann, wenn er eventuell ein paar Wochen kein Tor mehr
geschossen hat und sein Trainer, seine Mitspieler, seine Fans
sich fragen, ob es nun womöglich vorbei ist, ob das alles
womöglich nur ein Bluff war. Wer weiß, vielleicht ist Tinas
Sohn ein sechzehnjähriger Weiser und wer weiß, welch
wundervolle Dinge ihm das Leben noch schenken wird,
abseits übervoller Stadien und der gewaltigen Königspaläste.
Vielleicht ist das größte Glück letztlich doch, ein paar
Stunden im Tivoli verbringen zu können, ohne erkannt zu
werden.
DE s.417
DAS BEDÜRFNIS, SICH BEREIT ZU FÜHLEN,
DIE REISE FORTZUSETZEN
Die Wohnung von Antonello und Gennarina muss man erst
einmal erreichen, man muss sie erobern. Die beiden hat sie
Monate der Suche gekostet, den Gast kostet sie steile
Treppen bis hinauf in den dritten Stock, an deren Ende wir in
eine geräumige Wohnung mit viel Licht und viel Schatten
gelangen, eine Altbauwohnung, die von den beiden komplett
renoviert wurde, wobei sie die geschichtsträchtigen Balken
und Böden erhalten haben, aber auch ihrem Bedürfnis nach
Neuem gefolgt sind. „Diese Wohnung hat auf uns gewartet“,
meint Gennarina. „Sie hat uns sofort gefallen, denn es war
nicht einfach, ihr Potenzial zu erkennen, sich vorzustellen,
wie sie einmal sein würde, aber für uns war das von Anfang an
klar.“ Die Geschichte der Familie ist bewegt: Die Kinder sind
in Norditalien, am Comer See geboren, dann kehrten sie
irgendwann gemeinsam nach Neapel zurück. „Wir hatten nie
dieses Bedürfnis, zurückzukommen, wie es viele haben“,
erzählt Antonello. „Wir reisen einfach gern. Wir betrachten
diese Wohnung nicht als sicheren, letzten Hafen, im
Gegenteil, wenn man uns sagt: ‚Ihr habt die Wohnung eures
Lebens gebaut‘, sagen wir: ‚Nein, um Himmels willen, wir
hoffen, dass wir noch einmal umziehen.‘ Das ist es, was man
jemandem wünschen sollte, dass er Lust hat, die Reise
Texts by Flavio Soriga
German
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