Foscarini — Vite
Translations
seit fünfhundert Jahren hergestellt. Das Problem ist, dass es
heute einen schlechten Ruf hat. Die Menschen assoziieren es
mit alten Trinkern, mit ihren Urgroßeltern, sie empfinden es
als altmodisch. Ich sehe das für mich als Herausforderung,
ich möchte versuchen, es den jungen Menschen wieder
näherzubringen, als ein Getränk, das Teil unserer Geschichte
ist, ein natürliches, gutes Produkt.“ Er zeigt mir seine
Visitenkarte, das Logo ist wunderschön, ein Hirsch mit
großem Geweih, das über den Schild hinausragt, die dänische
Flagge, eine Krone, Natur. Es lässt an Nachmittage mitten in
einer endlosen Landschaft denken, an Hüttenabende vor dem
Kamin, an kalten Wind und Schnee, an Schäferhunde vor dem
Feuer, an ein Glas, das man mit Genuss langsam leert. Wie
sich ein Spirituosenhersteller die Zukunft vorstellt? „Mir
gefällt dieses alte Gebäude, der schöne Ausblick, den es hat,
mir gefällt, dass es in der Umgebung Lokale und Restaurants
gibt, ich habe es schon immer gemocht, wenn um mich das
Leben pulsiert. In Kopenhagen lässt es sich gut leben, vor
allem im Sommer, in dem die Stadt ein ganz anderes Gesicht
bekommt. Aber ich würde auch gern wieder einige Zeit an
den Strand, ans Meer zurückkehren. Ich glaube, dass wir
früher oder später wieder aufbrechen werden, es gibt noch so
viel zu sehen von der Welt.“
DE s.275
EIN BUEN RETIRO ODER WIE MAN
DEN PERFEKTEN RÜCKZUGSORT FINDET
So wie Millionen Menschen auf der ganzen Welt davon
träumen, in New York zu leben, träumen unglaublich viele
New Yorker von einem Ort, an den sie sich hin und wieder von
der Stadt zurückziehen können. Bryan und David haben dafür
eine kleine Gemeinde zwei Autostunden entfernt gewählt,
einen Ort, der unglaublich berühmt ist für ein Ereignis, das
dort nicht einmal stattgefunden hat: Woodstock. „Wenn man
diesen Namen sagt, denkt jeder sofort an Jimi Hendrix und
Janis Joplin, auch wenn das Konzert letztlich auf einen
Bauernhof verlegt wurde“, so Bryan. „Wirklich interessant ist
aber, dass man Woodstock gewählt hatte, weil es schon lange
zuvor zu einem Treffpunkt für Künstler geworden war.“ Bryan
ist Psychologe und hat eine Praxis an der Fifth Avenue. Seit
er ein kleiner Junge war, wollte er in einer großen Stadt leben.
„Ich bin in einer Universitätsstadt in der Nähe von Milwaukee
aufgewachsen, Häuser aus Stein direkt am See. Hin und
wieder sind unsere Eltern mit uns nach Chicago gefahren, wir
haben in einem Hotel geschlafen, sind ins Theater und
shoppen gegangen. Ich spürte die Energie der Stadt und
spürte, dass ich dieser Energie nie müde werden würde. Nach
dem Studium bin ich nach Madrid gezogen und dort habe ich
wieder diese Kraft gespürt. Als ich dann nach Amerika
zurückgekommen bin, wusste ich sofort, dass NY das
Richtige für mich sein würde. Ich habe viele Jahre
ehrenamtlich für einen Verein gearbeitet, der LGBT-Personen
unterstützt, die von Diskriminierung betroffen sind. Ich war in
der psychologischen Telefonberatung tätig und dort wurde
mir klar, dass ich als Psychoanalytiker arbeiten wollte. Und ja,
nach vielen Jahren in NY spüre ich noch immer diese Energie,
sowohl mein Lebensgefährte als auch ich lieben es, uns
während der Woche von der Energie der Stadt anstecken
zu lassen. Aber es ist schön, einen Ausgleich zu haben, aufs
Land zu fahren, Zeit allein mit unserer Katze zu verbringen,
zu wissen, dass wir rund um uns die Berge, Hirsche und
Bären haben.“ Ein buen retiro “ wie wir in Italien mit einem
spanischen Ausdruck sagen. So wie der Park in Madrid, der
vor langer Zeit von einem König gebaut wurde, ein Ort, an
dem die Zeit langsamer vergeht. „Unsere Jobs in der Stadt
sind in vieler Hinsicht anstrengend. Ich empfange hier in
meiner Praxis Patienten, die Spannungen der Menschen, die
mir aus ihrem Leben erzählen, stauen sich auf. Mein
Lebensgefährte war viele Jahre auf der ganzen Welt
unterwegs, jetzt arbeitet er als Communication Manager in
einem großen Unternehmen. Wenn wir nach Woodstock
fahren, ist es, als würde die Zeit langsamer vergehen,
dehnbar werden. Wir haben einen Kamin, einen Pool für den
Sommer, wir können im Freien kochen.“ Wie man den
perfekten buen retiro findet? „Wir haben einen Ort gesucht,
an dem wir trotzdem die Möglichkeit haben, abends in ein
schönes Lokal essen zu gehen oder eine Ausstellung zu
besuchen, es sollte ein einladender Ort sein. In Woodstock
haben Maler, Schauspieler und Regisseure gelebt. Es gibt
eine Stiftung, die Residenzprogramme für Künstler aus der
ganzen Welt anbietet, es sind viele schwule und lesbische
Paare unterwegs, Paare unterschiedlichster Hautfarbe oder
Religion. Sonntags kommen wir auf dem Square Drum Circle
zusammen, dem Trommelplatz, um gemeinsam Musik zu
machen und zu tanzen.“ Bryans Augen strahlen vor
Begeisterung, wenn er von ihrem alten Bauernhof erzählt,
auf dem einst Milch produziert wurde, und von dem Wald
rundherum. „Anfangs hatten wir jede Woche Gäste, dann
ließen sich unsere Freunde von unserer Begeisterung
anstecken. Das war eine richtige Welle; sie kamen zu Besuch
und dann kauften sie selbst ein Haus. Inzwischen haben wir
kaum noch Gäste, weil uns alle Freunde gefolgt sind, Davids
Bruder hat im Dorf eine Pizzeria eröffnet.“ Ich frage Bryan, ob
er denn nie Angst hat, wenn er dort übernachtet. „Die
Kriminalitätsrate in Woodstock ist unglaublich niedrig, sicher
niedriger als in den meisten Stadtteilen New Yorks. In
Wirklichkeit ist die Gefahr viel größer, dass ich einem
hungrigen Bären über den Weg laufe. Aber zum Glück sind
wir bisher gut davongekommen.“ „Unsere Zeit ist um, Herr
Doktor“, meine ich zu Bryan nach unserem Gespräch. Er
lacht. „Es ist schön, wenn das einmal ein anderer sagt. Und
es ist immer schön, wenn ich von unserem Haus erzählen
kann.“ Man sieht ihm an, dass er bereits ans Wochenende
denkt, an das alte Holzhaus zwei Autostunden von der Fifth
Avenue entfernt. Auch das ist ein positiver Aspekt eines buen
retiro: die Vorfreude und die freudige Aufregung, die damit
verbunden ist.
DE s.297
DIE MAGNA GRECIA DES DRITTEN JAHRTAUSENDS
„Die alten Römer sind immer nach Neapel gekommen, um
dort die Griechen, die Weisen zu geben, die Muße zu pflegen
und sich von der Natur inspirieren zu lassen, und die Natur,
die wir hier haben, hat wirklich etwas Gewaltiges. Ich meine:
Hier hat Virgil seine Eklogen geschrieben.“ Carlo hat zwei
Hunde, einen Studienabschluss in Betriebswirtschaft und
kann auf eine langjährige Karriere als Designer und Grafiker
für große Modemarken zurückblicken. „Ich habe zehn Jahre
in Mailand gelebt und gearbeitet, das war eine wichtige Zeit
für mich, ich durfte für die besten Mode- und
Einrichtungsmarken der Welt arbeiten. Als dann 2008 die
Krise kam, bin ich zurückgekommen. Zum Glück hatte meine
Urgroßmutter vor vielen Jahren einen alten Schuppen in eine
Wohnung umgebaut.“ Carlos Wohnung scheint direkt aufs
Wasser gebaut, am Horizont sieht man die Insel Nisidia. „Die
Wohnung blickt nicht auf die Straße, sondern direkt auf den
Golf.“ Carlos Wohnung liegt auf den Phlegräischen Feldern,
einem Gebiet, das nicht mehr wirklich Neapel ist, aber auch
noch nichts anderes. Ein Gebiet, in dem der Mensch seiner
zerstörerischen Kraft freien Lauf gelassen hat – woran auch
die Überreste der ehemaligen Industrieanlage Italsider von
Bagnoli schmerzhaft erinnern – und dennoch beeindrucken
seine Landschaft und Geschichte bis heute. Wir befinden uns
unweit von Cumae, der vom Mutterland am weitesten
entfernten Kolonie, die von den Griechen je gegründet würde.
In Cumae gibt es eine Höhle, die zu den berühmtesten
archäologischen Sehenswürdigkeiten der Welt zählt: In der
Sibyllengrotte musste Aeneas das Orakel über sein Schicksal
befragen. „Die Phlegräischen Felder waren schon immer
überaus reich an natürlichen Ressourcen, die Bourbonen
haben hier vierundsechzig Thermalwasserquellen gezählt.
Als die Arbeiter das Fundament für diese Wohnung legen
wollten, gab es Probleme bei den Grabungen, weil vierzig
Grad heißes Thermalwasser aus dem Boden schoss.
Sie haben auch drei römische Goldmünzen gefunden. Wir
befinden uns hier im Herzen der Magna Graecia, in Miseno
war die Flotte des römischen Reichs stationiert, das war ein
wohlhabendes, reiches Gebiet. Die alten Römer kamen nach
Neapel, um die Griechen, die Philosophen zu geben und ich
glaube, diese Einstellung ist nie ganz verschwunden: Wir
haben in Neapel die Eroberer nie fortgejagt, sind ihnen
gegenüber aber eher distanziert geblieben, haben uns eher
auf unsere eigenen Gedanken, unsere Natur und unsere
Geschichte konzentriert und sind den Regeln des neuen
Eroberers gegenüber gleichgültig geblieben. Was zugleich
eine hervorragende Ausrede ist, um diese Regeln nicht zu
befolgen.“ Eine Wohnung mit einem so gewaltigen, so
übermächtigen Ausblick kann auch zur Falle werden. Die
Wohnung als Welt im Kleinen, die den Versuchungen der
echten Welt, der Straße, des Ausgehens ihre Macht raubt.
„Wohnungen müssen wie schützende Höhlen sein. Das ist der
Ort, an dem man das Material zusammenträgt, um seine
Ideen zu überarbeiten. Ich zeichne, schaffe, bringe Ordnung
in meine Eingebungen, in das, was ich gelesen und gesehen
habe, was mich berührt hat. Von diesem Standpunkt aus ist
meine Wohnung perfekt, aber ja, sie kann gefährlich sein, ich
bin so gerne hier, dass ich manchmal verleitet bin, gar nicht
hinauszugehen. Ich lebe mit zwei Hunden, das sorgt vielleicht
für den nötigen Ausgleich, die Hunde müssen raus, sie
müssen spüren, dass ich aktiv bin. Hunde sind in gewisser
Hinsicht ein Spiegel. Es gibt traurige Momente, in denen du
siehst, dass auch deine Hunde traurig sind und dann reißt du
dich zusammen, vielleicht mehr ihnen als dir selbst zuliebe.“
Zeichnen, mit den Hunden rausgehen, in der Natur Kraft
tanken und sich von ihr inspirieren lassen: die Magna Graecia
des dritten Jahrtausends.
DE s.325
EINE GASTFREUNDLICHE
UND ENERGIESPENDENDE STADT
Wang Ying meint, sich nicht mehr an viel zu erinnern, als er
noch ein Kind war. „Nicht einmal daran, was du zu werden
träumtest?“, frage ich ihn. „Nein“, sagt er. „Ich würde sogar
meinen, dass ein Kind nicht gut verstehen kann, was es
bedeutet zu träumen oder einen Zukunftstraum zu haben.“
Vielleicht hat er Recht. Wer weiß, ob jemand vor vierzig
Jahren in Shanghai träumen oder sich vorstellen konnte, dass
2020 diese Stadt so damit beschäftigt sein würde, Gebäude
zu errichten, Stadtviertel zu entwerfen und Tausenden und
Abertausenden Schöpfern von Formen und Figuren damit
Arbeit zu geben. Wang Ying ist ein Innenarchitekt. Er erzählt,
dass ihm seine Arbeit sehr gefällt, vorausgesetzt, dass der
ihn beauftragende Kunde oder das ihm vorgeschlagene
Projekt anregend sind. „Meine Wohnung würde ich
folgendermaßen bezeichnen: einen Ort für alte junge Leute.
Sie besitzt nämlich viele Dinge, die traditionell erscheinen,
dem Geschmack der Älteren entsprechen, jedoch hat man
gleichzeitig nicht das Gefühl, dass sie von älteren Menschen
bewohnt wird. Die Einrichtung und die Bücher sind die
wichtigsten Dinge in meinem Zuhause. Bücher, Zeitschriften,
Bilder machen den Ort, an dem man wohnt, zu seinem
eigenen, lassen Bereiche lebendig werden und verleihen
ihnen eine Seele. Natürlich auch Dinge, vor allem jene voller
Lebenskraft. Ich habe einen alten Stuhl, den ich auf der
Straße gefunden habe. Er kostete 20 RMB und ich nahm ihn.
Er erscheint jedoch gar nicht billig. In der Ecke, in der er jetzt
steht, ist er perfekt.“ Die Vergangenheit, die Gegenwart, die
Zukunft, der Osten und der Westen - anscheinend kommen
alle Einwohner Shanghais, die ich interviewe, immer auf diese
Themen zurück. Wang Ying lebt mit seiner Freundin
zusammen. Ich frage ihn, was für ihn Liebe ist, vorausgesetzt
man kann das größte menschliche Geheimnis beschreiben.
„Es ist eine Sache der Gegenseitigkeit. Es bedeutet, mit der
anderen Hälfte ganz natürlich zu harmonieren und sich so
Texts by Flavio Soriga
German
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