Foscarini — Vite
Translations
„Zwanzig Prozent des Containertransports der Welt erfolgt
mit unseren Schiffen“, erläutert der geschäftige
Kopenhagener. Er trägt ein gestreiftes Hemd und Anzug und
wirkt wie jemand, der für seine Mittagspause nur wenig Zeit
hat, sofern er gewöhnlich überhaupt eine macht. Die heutige
Schifffahrt hat kaum etwas mit den Seefahrten der Piraten,
der venezianischen Entdecker oder der Wikinger gemein.
Heute sind vor allem Waren unterwegs, vor allem in
Containern. „Computer, Bücher, Kleidung – wir transportieren
alles. Wir haben über 600 Containerschiffe, über 27.000
Mitarbeiter auf der ganzen Welt“, so David. „Auch dieser
Tisch war wahrscheinlich mit uns unterwegs.“ Der Tisch ist
wunderschön: breite Bohlen aus grobem Altholz, mit Löchern
und Rissen. Man kann sich die tausend Geschichten
ausmalen, die dieses Holz schon erlebt haben muss. „Die
Bohlen sind aus einem Hafen in Südamerika, aus einer
Schiffstation. Sie befanden sich zur Hälfte unter Wasser,
jemand hat sie rausgeholt und daraus diesen fantastischen
Tisch gemacht.“ Ich frage David, warum er gerade in diesen
Stadtteil gezogen ist. Ein überraschtes Lächeln zieht über
sein schönes, ruhiges Gesicht. „Weil es die beste Gegend der
Stadt ist“, meint er. „Hier gibt es wunderschöne Wohnungen,
in einem Stil, der mir gefällt, es gibt Seen, schmale, nette
Straßen, schöne Geschäfte. Es gefällt mir hier. Es geht uns
sehr gut in dieser Wohnung, aber wir sind jetzt in einer
Lebensphase, in der wir auch ein bisschen Grund, ein paar
Pflanzen brauchen, deshalb ziehen wir jetzt in ein Haus mit
Garten.“ Davids Frau ist Chefköchin und damit eine der
wahren Stars unserer Zeit, die ihr Handwerk zur Kunst
erhoben haben. „Sie arbeitet für ein Unternehmen, das vor
allem Veranstaltungen organisiert, auch Großveranstaltungen
mit tausend Leuten. Und ja, sie treten tatsächlich ein wenig
wie Rockstars auf, es steckt viel Kreativität in ihrer Arbeit“
David kommt aus Kopenhagen und lebt in Kopenhagen. Ich
frage ihn, ob er immer hier gelebt hat. „Nein, ich habe in
Frankreich studiert. Der Wein dort war großartig. Abgesehen
davon bin ich wirklich gern hier, ich mag meinen Job, mir
gefällt, dass in meinem Team Menschen aus ungefähr
fünfzehn verschiedenen Nationen vertreten sind. In einem
normalen Büro, in dem ich nur mit Dänen zu tun hätte, würde
ich mich langweilen.“ Ich frage ihn, ob seine Kinder hier
aufwachsen sollen. „Vielleicht gehen wir irgendwann für
einige Zeit ins Ausland. Vielleicht nach Indien. Dort gibt es,
sagen wir mal, mehr Probleme, aber auch mehr Vielfalt, mehr
Farben, es ist ein faszinierender Ort mit starken
Gegensätzen. Hier leben wir alle in mehr oder minder
ähnlichen sozialen Verhältnissen, es sind die Gegensätze, die
mich faszinieren. Und natürlich bin ich auch ein Freund der
indischen Küche.“
DE s.175
DAS LICHT KANN BLENDEN,
DIE STADT EINEN VERSCHLINGEN
Arnò kommt aus Frankreich und lebt in Neapel. Der Maler hat
zwei Töchter und eine traumhaft schöne Wohnung. Er lächelt
viel und heißt mich in seiner Wohnung herzlich willkommen,
ist neugierig, worin meine Aufgabe nun genau besteht. „Von
einer Wohnung, einem Leben erzählen“, denkt er vermutlich,
„wie soll das möglich sein?“ Und vielleicht ist es auch wirklich
nicht möglich, aber andererseits versucht er, in Farben von
Städten zu erzählen, und das ist wohl auch nicht einfach. Ich
weiß genau, wie es Arnò ergangen sein muss, als er das erste
Mal nach Neapel gekommen ist, denn genauso ist es mir vor
fünfundzwanzig Jahren ergangen: Man kommt an und Bumm!,
Staunen, Unglaube, Wahnsinn, Liebe. Es ist vollkommen egal,
was man zuvor schon alles über Neapel gehört hat, man ist
nie wirklich vorbereitet auf diese Stadt, auf das, was man zum
Beispiel in den Arbeitervierteln erlebt. Auf die Menschen, das
Geschrei, das Singen, die lauten Gespräche von Balkon zu
Balkon. „Als ich nach meinen ersten drei Monaten hier nach
Paris zurückgefahren bin und meine Freunden meine Bilder
sahen, meinten alle: ‚Du warst in der Stadt am Vesuv und hast
sie nicht ein einziges Mal gemalt.‘“ Die Sache ist die, wenn
man in Neapel ankommt, bleibt man in der Stadt, man sieht
sich um, verbringt die Tage damit, die Gesichter, Gassen und
Balkone zu betrachten, man sucht keine Postkartenmotive,
keine Landschaften. „Ich bin am ersten April aus Paris weg,
da war es noch Winter, und hier war dieses Licht, da waren
diese Blautöne. In Paris kann es sein, dass der Himmel den
ganzen Winter lang fast weiß, farblos bleibt, hier hingegen ist
überall Licht, das Licht kann dich ablenken, verwirren,
entführen.“ Das Licht kann blenden, die Stadt einen
verschlingen. Tatsächlich hat sich Arnò inzwischen vom
Chaos der Altstadt verabschiedet und lebt nun in einem
Stadtteil mit Blick auf die Inseln, den Golf, das Meer, den
Vesuv. Als Arnò in Neapel ankam, nahmen Freunde ihn mit auf
ein Fest, auf dem er eine Frau kennenlernte, heute ist er mit
ihr verheiratet. „Sie ist Anwältin, sie verteidigt die
Unschuldigen, so sage ich immer, sie sagt, ich sei ihre
künstlerische Seite.“ Es ist still in dieser Wohnung, zum
Malen begibt sich Arnò in ein kleines, mit Leinwänden
vollgestopftes Zimmer, in das praktisch keine Sonne dringt.
„Es gibt einen neapolitanischen Schriftsteller, Raffaele La
Capria, der beschreibt, dass es unmöglich ist, wirklich kein
Licht ins Haus zu lassen. Dieses Konzept von einem ‚schönen
Tag‘ gibt es in Neapel nicht. Wir sind hier auf der Ostseite,
sobald die Sonne aufgeht, wissen wir schon, dass es ein
schöner Tag sein wird, man kann gar nicht drinnen bleiben, es
zieht einen nach draußen. Wenn dann die kühlere Jahreszeit
kommt und die Tage kürzer werden, sage ich mir, dass ich
mich jetzt endlich ein wenig auf mich konzentrieren kann, ich
beginne zu filtern, weniger auszugehen, die Abende sind
länger, ich kann mich meinen Studien widmen, meinen Fotos.
Ich suche Motive, manchmal sieht man ein Motiv über viele
Jahre, aber es berührt einen nicht, weil das Licht nicht
stimmt.“ Aber früher oder später ist das richtige Licht da, vor
allem in einer Stadt, die nicht deine Stadt ist, aber zu deiner
geworden ist und die nie deine sein wird aber schon deine ist.
„Ich fühle mich dem Mittelmeer sehr verbunden“, meint Arnò
zu mir. Was vielleicht einfach nur heißt, dass er das richtige
Licht sucht, dass er immer das richtige Licht suchen wird.
DE s.205
DAS WUNDER UND DIE MÜHE VOM BESONDERS-SEIN
„Für mich ist das nichts Besonderes“, meint Lucia. „Ich weiß
ja nicht, wie es ist, woanders zu leben, für mich ist es normal,
so wie für meine Kinder, die von Anfang an alleine zur Schule
gegangen sind, die in den Gassen und auf den Plätzen
unterwegs sind, ohne dass ihre Eltern Angst vor einem
Autounfall haben müssen. Für mich ist das die einzig
mögliche Art von Stadt, die Enge, die Lagune, die Kanäle und
Brücken.“ Lucia ist bewusst, wie stark sich Venedig
gewandelt hat. Und es stimmt schon, dass sich diese Stadt
seit ihrer Gründung beständig verändert hat, dass sich ihre
Institutionen und die Grenzen ihres Herrschaftsgebiets immer
wieder gewandelt haben, dass sie gewachsen ist, immer
schon Laboratorium und offene Werkstätte war. Aber in den
letzten Jahrzehnten hat eine neue Form der Veränderung
stattgefunden: Die Zahl der Einwohner geht zurück, die der
Tagestouristen nimmt zu. „Früher gab es Monate, in denen
keine Touristen da waren, jetzt nicht mehr. Die Nahversorger
schließen und an ihrer Stelle eröffnen billige Souvenirläden,
solche, die den Touristen zuzurufen scheinen: ‚Hierher,
hierher, kauft diesen Schrott, er kostet fast nichts!‘, und das
schmerzt mich, denn ich finde das respektlos unseren Gästen
gegenüber.“ Im Laufe der Zeit haben so viele Künstler diese
Stadt besucht, dass es keinen Sinn hat, sie alle aufzuzählen,
und viele von ihnen haben Reisenotizen, Berichte,
Geschichten hinterlassen. „Die Leute, die heute nach
Venedig kommen, nehmen einen Kühlschrankmagneten mit
nach Hause. Früher haben nur diejenigen eine Reise
unternommen, die wirklich motiviert waren, die wirklich Lust
hatten, fremde Orte zu entdecken, kommt mir vor. Jetzt reist
man mehr aus der Freude darüber, ein Ticket für zwanzig Euro
kaufen zu können, um den Namen einer Stadt von der
geistigen Liste der Reiseziele zu streichen. Diese Stadt ist
nicht nur teuer, sie ist beschwerlich. Wenn man auf dem Lido
wohnt und nach Mestre muss, ist das ein langer Weg. Venedig
ist eine Stadt, die stehengeblieben ist. Manchmal fühle ich
mich ein wenig wie ein Panda. Wenn ich in normalen Städten
bin, liebe ich das Chaos, die Autos wühlen mich auf und am
Abend bin ich dann natürlich erledigt und kann es kaum
erwarten zurück in die Stille zu fahren. Unsere Wohnung liegt
ganz in der Nähe der Accademia, des Guggenheim, der
Sammlung Pinault. Die Kunst ist sehr präsent hier, abends ist
es wunderbar still, man hört nur die vorbeifahrenden Boote.“
Lucias Mann ist Architekt, die Wohnung hat er selbst
umgebaut. Von den Fenstern und vom Balkon aus hat man
einen traumhaften Ausblick auf Venedig, die Kanäle, die
Dächer, den Markusturm. „Mein Mann arbeitet für große
Modemarken, er unterstützt sie bei der Eröffnung von
Geschäften in Venedig. Ein Architekt aus Mailand, Paris oder
San Francisco kann die örtlichen Vorschriften gar nicht alle
im Detail kennen oder verstehen, wie das mit dem
Hochwasser funktioniert.“ Und wieder geht es darum,
besonders zu sein, anders zu sein, eine Lebensart zu kennen,
die niemand anderes je in dieser Form kennen wird. „Ich weiß
nicht, ob wir wirklich besonders sind, wir Venezianer, auf
jeden Fall sind wir anders. Dieses Besonders-Sein hat einen
hohen Preis, vor allem wenn man Kinder hat, es sind die
kleinen Dinge. Als die Kinder noch klein waren, war der Weg
vom Piazzale Roma bis nach Hause, wenn wir zum
Abendessen nach Mestre gefahren waren, jedes Mal
unglaublich kräftezehrend. Wir steckten die Kinder in einen
Einkaufswagen, fuhren sie im Einkaufswagen durch die
Gassen bis nach Hause und trugen sie dann im Arm bis in den
vierten Stock.“ Ja, es ist anstrengend, etwas Besonderes zu
sein.
DE s.233
EIN WIKINGER VON WELT MIT DEM KOFFER
STETS IN DER HAND
„Ich bin ein Strandmensch, ich mag heißes Wetter.“ Frederick
sieht aus wie ein Wikinger, den es nie lange an einem Ort hält.
Der Sohn eines Diplomaten lebte mit seinen Eltern zuerst in
Südostasien und dann in Deutschland. Als erwachsener Mann
begann er erneut die Welt zu bereisen: Hongkong, Uruguay,
Argentinien, Honduras, Australien. „Ich hatte immer dieses
Bedürfnis, herauszufinden, was die Welt anderswo für mich
bereithält.“ Und die Welt hat so einiges zu bieten: Speisen,
Getränke, Musik, andere Kulturen. Alles Dinge, die Frederick
sichtlich viel bedeuten. Im Eingangsbereich seiner Wohnung
steht eine ganze Reihe alter, abgewetzter All Stars, Zeugen
wer weiß wie vieler Momente des Aufbruchs und der
Heimkehr. Frederick und seine mexikanisch/amerikanische
Freundin sind vor kurzem Eltern von Zwillingen geworden. Die
Kinder heißen Kioko Bowie und Siena Indigo, was vielleicht
viel über Frederick, vielleicht über seine Frau, vielleicht über
sie beide aussagt oder vielleicht sagt der Umstand, dass ich
diese Namen so bemerkenswert finde, auch einfach viel über
mich als Italiener aus der Provinz aus. „Kioko ist japanisch
und bedeutet ‚der das Glück mit der Welt teilt‘. Bowie steht
für David Bowie, in der Hoffnung, dass ihm dieser Name die
Kraft gibt, zu sein, wer er will. Siena und Indaco sind zwei
Farben, Siena ist die Farbe des Sonnenaufgangs in der
Toskana, meine Lieblingsfarbe, Indaco ist ein
Mitternachtsblau.“ Fredericks Wohnung liegt direkt neben
einer alten Brauerei, in einem Stadtteil mit zahlreichen
Restaurants, Parks, Kunsthandwerk- und Vintage-Läden.
Ich frage ihn, was ein junger Mann von Welt beruflich macht.
„Früher habe ich für verschiedene
Kommunikationsunternehmen gearbeitet, aber jetzt stelle ich
Spirituosen her. Likör, dänischen Branntwein. Das ist ein
typisches Produkt hier, das älteste in Nordeuropa, es wird
Texts by Flavio Soriga
German
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