Foscarini — Vite
Translations
und Maria weiß das genau. Maria ist eine Frau des
Mittelmeers, vielleicht auch ein wenig Normannin und durch
und durch postmodern. „Ich war ein kleiner Olivenbaum,
gezeugt von ionischen Winden“, zitiert Maria einen Vers von
Elsa Morante. Der Olivenbaum ist Griechenland und
Sardinien, Nordafrika und Spanien, sie und ich
gleichermaßen. Maria wohnt zur Miete und dennoch ist es
ganz ihre Wohnung, ein Kondensat hunderter Leben, denn
niemand von uns hat nur eines gelebt, vor allem wenn die Zeit
der weißen Haare gekommen ist. „Der Olivenbaum“, sagt
Maria, „ist eine Pflanze, die vom gesamten Mittelmeer
erzählt. Es gibt den üppigen Olivenbaum der Küstengebiete
ebenso wie den auf Pantelleria, der klein ist und knorrig, mit
nach unten geneigten Ästen, um sich kühlenden Schatten zu
spenden.“ Auch der Olivenbaum ist viele Dinge zugleich, wie
die Sarden und die Neapolitaner. „Ich bin achtundvierzig und
habe beschlossen, dass man meine weißen Haare sehen soll.
Man soll das Leben sehen, das man gelebt hat, oder nicht?“
Marias Wohnung ist voller Keramiken, Bilder, alter Puppen
aus Flandern, Kunst und Licht. „Im Mai vor zehn Jahren habe
ich diese Wohnung zum ersten Mal betreten und sofort
gesagt: Das ist sie. Sie ist warm, einladend und aus gelbem
Tuff, der Farbe der heißen, gleißenden Sonne. Kaum zwei
Tage nachdem ich eingezogen bin, habe ich ein Festessen
gegeben. Ich hatte noch keine Leuchten, keine Möbel, überall
standen große Schachteln und dennoch habe ich Gäste
empfangen.“ Maria ist Universitätsdozentin und
Kunstkritikerin, ihr Leben ist reich an Kunst und Schönem.
„Dieses erste Abendessen, das ich nach einer
Ausstellungseröffnung eilig mit einfachen Mitteln auf die
Beine gestellt habe, war eine Botschaft an meine Wohnung:
‚Hör zu, auch wenn mir noch vieles fehlt, um dich gemütlich
zu machen, müssen wir dafür sorgen, dass sich hier alle
willkommen fühlen.‘“ Sie ist auch eine Baustelle, Marias
Wohnung, ein Treffpunkt für Künstler, Kritiker, Freunde und
Fremde. „Hin und wieder sehe ich mich nach einer
Eigentumswohnung um, aber kaum beginne ich damit, bereue
ich mein Vorhaben schon und langweile mich. Eigentum an
und für sich interessiert mich im Grunde nicht, ich möchte
mich zuhause fühlen, es geht mir um dieses Gefühl, mir ist
wichtig, dass sich alle wohlfühlen.“ Und am Rande dieser
Stadt, Neapel, in der angeblich nur chaotische
Mandolinenspieler wohnen und alle für Pizza, Mozzarella und
Makkaroni schwärmen, bereitet Maria schwarzen Reis mit
gedämpftem Gemüse zu, wir essen am Balkon, die Sonne
scheint. „Ich kann mir keine Wohnung in Neapel vorstellen,
die nicht auch über einen Außenbereich verfügt, eine Art
Verlängerung ins Freie, zum Theater der Stadt hin, einen Ort,
an dem man den Blicken der anderen ausgesetzt ist. Auf
einem Balkon verliert man ein Stück seiner Privatsphäre und
betritt unmittelbar eine Bühne, betritt diese Stadt des
Theaters, in der es üblich ist, unterwegs zu sein, im Freien zu
sein, sich zu präsentieren, statt sich ins Private
zurückzuziehen.“ Diese Stadt ist ein Theater, ein Museum, ein
Spielfeld und ein Ort der Verdammnis, ist eine Million Dinge
zugleich. Hier leben Millionen von Menschen, die sich auf
engstem Raum, dicht zusammendrängt in Szene setzen, und
jeder von ihnen hat sein eigenes Theater. Und Maria
beobachtet die Stadt von hier oben und lächelt, wie ein
postmoderner Olivenbaum, der weiß, dass jeder von uns eine
Geschichte hat, mit der er zurechtkommen muss, jeder von
uns auf seine Weise.
DE s.097
WO DER OSTEN DEM WESTEN BEGEGNET
UND DIE ZUKUNFT UNVORHERSEHBAR ISTR
Shanghai ist nicht nur eine Stadt, eine einfache Stadt
(vorausgesetzt, dass es einfache Städte gibt), Shanghai ist
mehr als alles, was man sich vorstellen kann. Sie ist groß und
komplex wie eine Nation, sie hat fast dreißig Millionen
Einwohner, sie ist die am zweitdichtesten besiedelte Stadt
der Welt, sie hat eine lange Geschichte und weist ihre Spuren
auf, sie ist riesig und lässt einen winzig fühlen oder berauscht
mit seiner Energie. Nan Lang ist ein stiller, zurückhaltender
Mann, der scheinbar die Energie der Stadt in sich aufnimmt
und wunderbarerweise in ruhige und sichere Gesten sowie
Worte und - wer weiß - vielleicht auch Gedanken verwandelt.
Er kam nach Shanghai, um als Designer zu arbeiten und das
tut er auch. Seine Wohnung ist voller Dinge, doch keines
scheint, nicht an seinem Platz zu sein. Vielleicht muss man,
um in einer so großen, so chaotischen Stadt und in einem
sich ständig ändernden Land leben zu können, alles unter
Kontrolle haben, oder zumindest das, was man unter
Kontrolle haben kann. Nan Lang arbeitet als Designer und
meint über sich selbst, dass er ein moderner Mensch ist, mit
einem alten Mann in seinem Körper. Er ist schüchtern wie der
Hundewelpe, den er vor kurzem von der Straße gerettet hat.
„Meine Katze ist hingegen sehr gesprächig“, sagt er mit
einem Lächeln. Wenn es einen Ort gibt, wo sich heute ein
modern lebender, jedoch sich innerlich etwas alt fühlender
Architekt wohlfühlen kann, ist dieser vielleicht genau
Shanghai, im alten französischen Stadtviertel. „Mein Viertel
ist sehr schön. Die Gebäude im alten Shanghai haben diese
wunderschönen Details. Auch die Lage ist gut. Ich kann zu
Fuß zur Arbeit gehen. Das ist sehr praktisch.“ Die Wohnung
von Nan Lang offenbart sich in warmem Licht und mit der
Atmosphäre eines Zufluchtsortes, der Zentimeter für
Zentimeter gestaltet wurde. Sie ist voller Dinge, doch
besonders eines liegt seinem Besitzer am Herzen: „Das ist
die Heiratsurkunde meiner Großeltern. Ich habe sie
eingerahmt und bewahre sie bei mir Zuhause auf. Es ist ein
ganz wunderbares Stück, das mir viel bedeutet. Es ist ein Teil
meiner Geschichte.“ Die Geschichte eines jeden von uns
beginnt in der Ferne, auch jener, die in derselben Stadt der
Eltern und Großeltern geboren und aufgewachsen sind. In
Shanghai kreuzen sich Millionen von Geschichten, die
anderswo begonnen haben und in diesem städtischen
Universum zusammenlaufen. Eine perfekte Umgebung, um an
Linien, Farben und Materialien der Dinge zu arbeiten, um zu
versuchen, Möbeln und Kleidern Form zu geben. Nan Lang
liebte es schon immer zu zeichnen, schon in seiner Kindheit.
Nun besitzt er eine eigene Modemarke und behauptet, dass
sich seine Arbeit aus vielen Arbeiten zusammensetzt. „Ich
liebe Innenarchitektur, ich mag Bereiche, in denen sich
Menschen schnell wohlfühlen. Außerdem widme ich mich
dem Graphic Design, der Mode und Dekorationen. Es ist eine
abwechslungsreiche Arbeit und ich liebe sie sehr. Ich liebe
mein Leben, ich liebe das Leben im Allgemeinen.“ Ein
Designer in einer Stadt, die ständig neu entworfen wird.
„In Shanghai gibt es ein sehr intensives Kulturleben. Es gibt
Veranstaltungen, Ausstellungen, Galerien. Die Stadt ist heute
sehr allumfassend. Hier begegnet der Westen dem Osten,
das Alte lebt mit dem Modernen zusammen. Das alte
Shanghai ist überaus faszinierend. Das Shanghai der Zukunft
ist unmöglich vorauszusehen.“ Eine moderne Stadt mit einem
alten Körper in sich, genau wie Nan Lang.
DE s.125
EIN HAUS GANZ AUS GLAS MIT EINER GESCHICHTE,
DIE ES NOCH ZU SCHREIBEN GILT
Eine Freundin von mir, ebenfalls aus Sardinien, lebt seit zehn
Jahren in New York. Ihr Mann, Avram, ist Jazzmusiker und als
Sohn russischer Einwanderer in Brooklyn aufgewachsen. Sie
laden mich zum Abendessen ins Fanelli ein, ein Lokal, in dem
ich noch nie war und trotzdem habe ich das Gefühl, es schon
ewig zu kennen. Alle begrüßen, kennen, umarmen einander
– die Kunden, die Barkeeper, die Kellnerinnen. Auf dem
Bildschirm läuft American Football, ich frage meinen Freund,
ob er sich dafür interessiert. „Ich bin in Brooklyn
aufgewachsen, ich mochte Soccer, Fußball, ich mochte Jazz“,
antwortet er. „Meine Frau denkt, dass es vollkommen normal
ist, sich für Fußball zu interessieren. Vielleicht ist das in
Italien so, aber wenn du in Amerika auf Fußball stehst, bist du
ein Exzentriker. Soccer und Jazz, das war in meiner Kindheit
etwas für wirklich seltsame Menschen.“ Die Länder der Welt
werden einander immer ähnlicher, wir sind mehr als
übersättigt von Bildern, Videos, Audioaufnahmen, Reisen ist
nicht mehr das Abenteuer, das es einmal war, und dennoch
bleibt es eine seltsame Erfahrung. Sogar New York – ein Ort,
den wir alle schon ein wenig zu kennen glauben, noch bevor
wir selbst dort waren – sogar New York kann einen dazu
bringen, Dinge anders zu sehen, die man gut zu kennen
glaubte. Wie das Phänomen Fußball. Den
Wohnungseigentümer, den ich nach dem Abendessen mit
meinem Freund, dem Jazzmusiker, besuche, kenne ich schon,
auch wenn ich ihn noch nie zuvor getroffen habe, denn er
kommt aus derselben Stadt am Meer wie ich. Ich kenne
seinen leicht schleppenden Akzent, dieses ewig jungenhafte
Gesicht, sein gewitztes Lächeln. Wir könnten stundenlang
über Fußball sprechen, aber nicht heute Abend, denn wir
kommen zwar aus derselben Region, aber jetzt befinden wir
uns am anderen Ende der Welt, mitten in New York, in dieser
Wohnung im fünfzehnten Stockwerk mit ihren riesigen
Glasfronten. „Wenn du in die richtige Richtung schaust,
siehst du die Freiheitsstatue, auch in der Nacht.“ Ich versuche
es, sehe sie aber nicht. Ich sehe Manhattan mit seinen
Wolkenkratzern, die Williamsburg Bridge, den East River.
„Für Kommentare zur Wohnung müssen wir auf meine Frau
Fleur warten“, sagt Carlo. „Sie ist es, die hier die
Entscheidungen trifft, diese Dinge überlasse ich ganz ihr.“
Carlo arbeitete seit vielen Jahren in London, als ihn ein
Freund aus Sardinien einlud, hierher zu kommen, um eines
seiner Restaurants zu leiten. „Er meinte: ‚ Komm und sieh es
dir an. Ich will nicht übertreiben, aber diese Stadt kann sehr
mediterran sein.‘ Und irgendwie stimmt das auch, wenn man
gerade aus London kommt: der klare Himmel, das Licht, das
Wasser um einen herum. Ich bin in Cagliari aufgewachsen,
mit Blick aufs Meer. Aber erst als ich weggezogen bin, wurde
mir bewusst, wie viel das wert ist.“ Carlos Frau ist Französin
und arbeitet bei der UNO, sie ist viel in der Welt
herumgekommen. „Sie wollte unbedingt diese Globen, siehst
du? Bis sie nicht genau die gefunden hatte, die sie wollte, ließ
ihr diese Wand keine Ruhe. Aber die Wohnung habe ich
ausgesucht. Sie ist mehr der Altbau-Typ, alte rote
Ziegelsteine, alte Feuertreppen, alte Fenster. Als sie mit
unserer Tochter schwanger war, dachte ich: ‚Auf keinen Fall
irgendetwas im dritten Stock mit engem Treppenhaus, ohne
Aufzug.‘ Wir haben uns viele Wohnungen angesehen, die
meisten waren schrecklich, bis ich eines Tages auf dieses
Gebäude gestoßen bin, ein Neubau. Ich bin ausgeflippt:
Ausblick auf drei Seiten, so viel Licht. Ich dachte: ‚Wir sind
die ersten, die hier einziehen, das erste Kapitel in der
Geschichte dieser Wohnung.‘“ Während Carlo erzählt,
brabbelt die sechs Monate alte Lulù munter Unverständliches
vor sich hin, ist nicht einen Augenblick still. Auch als ihre
Mutter zu uns stößt, hält sie weiter große Reden. Ich frage
meine Gastgeber, ob sie wollen, dass ihre Tochter hier
aufwächst. „Ich bin seit 10 Jahren hier“, antwortet Fleur.
„Unsere Jobs könnten uns auch in andere Städte führen, aber
in NY werden wir immer Bekannte und Freunde haben. Ich
habe in Senegal, Madagaskar, Mexiko, Dänemark gelebt. Wer
weiß, was noch kommt.“ Lulù liegt in den Armen ihres Vaters,
hört aufmerksam zu, ist für einen Moment still. „ Inzwischen
zeige ich ihr die Sonnenaufgänge und -untergänge vom
Balkon“, sagt Carlo. „Es klingt vielleicht abgedroschen, aber
ich habe das Gefühl, dass das Licht jeden Tag anders ist.
“ Es ist nicht unser Mittelmeer, aber immerhin.
DE s.145
EIN BISSCHEN PIRAT, EIN BISSCHEN HANDWERKER,
EIN BISSCHEN ROCKSTAR
Was auch immer Sie zuletzt gekauft haben, es ist ziemlich
wahrscheinlich, dass es in einem Container jenes
Unternehmens verschifft wurde, bei dem David arbeitet.
Texts by Flavio Soriga
German
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