Foscarini — Vite
Translations
DE s.002
SCHÖNHEIT IST ÜBERALL
Es gibt ein Geheimrezept, wie man eine Geschichte so
erzählt, dass andere aufmerksam zuhören. Und zwar indem
man zunächst in sein eigenes Herz hört. Zuerst ruft man sich
die Fakten, die Figuren, die Objekte ins Gedächtnis, die in der
Geschichte vorkommen. Bevor man sie nun beschreibt, hört
man zunächst in sein eigenes Herz, welche Schwingungen sie
dort auslösen. Diese Herangehensweise ist eine
Bereicherung: für den Erzähler, aber auch für den Zuhörer.
Und sie funktioniert immer. Denn letzten Endes – gleich wer
wir sind und was wir machen – sind wir alle Menschen.
Und Menschen brauchen in ihrem Leben Beziehungen und
Emotionen. Kann ein Unternehmen auf diese Art und Weise
Geschichten erzählen? Es ist zweifellos eine
Herausforderung. Man muss Kontrolle abgeben und
denjenigen Raum geben, die es verstehen, zuzuhören.
Und genau das ist es, was wir mit VITE – deutsch „Leben“ –
versucht haben. Indem wir einen Kunstfotografen (Gianluca
Vassallo) und einen Schriftsteller (Flavio Soriga) um ihren
unabhängigen Beitrag gebeten haben. Mit ihrem Blick und
ihren Worten erkundeten die beiden im Rahmen des Projekts
reale, private Wohnräume – fernab der für die Designbranche
typischen Settings und Kommunikationsstrategien, in denen
das Nicht-Perfekte, das „echte“ Leben, oft ängstlich
ausgeklammert wird. Mit Inventario haben wir ein von
kommerziellen Zwängen unabhängiges Magazin gegründet,
in dem sich alles um Designkultur dreht. Mit dem Projekt
Ritratti haben wir Design an sich ins Rampenlicht gerückt und
unseren Leuchten individuelle Porträts gewidmet. Mit dem
Projekt Maestrie haben wir vom Know-how der Handwerker
erzählt, die unsere Leuchten fertigen. Mit VITE möchten wir
die Welt jetzt aus einer neuen Perspektive betrachten. Wir
möchten von Licht erzählen, ohne dabei jedoch die Leuchten,
deren Designer, Entwickler oder Hersteller in den Mittelpunkt
zu stellen, sondern vielmehr mit Fokus auf den Menschen,
die in den Räumen leben, die von diesen Leuchten erhellt
werden. VITE erzählt von einer Reise, die uns in
verschiedenste Städte im Norden, Süden, Osten und Westen
geführt hat, in echte Wohnungen, in denen wir realen
Menschen begegnet sind. Menschen, die mit Freude und viel
Geduld an dem Projekt teilgenommen und uns dafür Einlass
in ihre Wohnungen und ihr Leben gewährt haben. Auf
Zehenspitzen haben wir uns durch ihre privaten Wohnräume
bewegt, in die sich unsere Leuchten so harmonisch einfügen.
In denen sie Teil des gelebten Lebens werden, während sie
ihre Umgebung zugleich auf wundersame Weise gestalten
und verwandeln. Mit VITE setzen wir den Fokus auf Räume,
Erfahrungen, Erinnerungen und richten den Blick auch auf die
kleinen Dinge – im Bewusstsein, dass Schönheit überall ist,
wenn wir nur bereit sind, uns von ihr überraschen zu lassen.
Carlo Urbinati, Gründer und Präsident von Foscarini
DE s.007
DAS LICHT IN FREMDEN WOHNUNGEN
In fremden Wohnungen verbirgt sich leben, verbergen sich
Geschichten und Menschen, in den Wohnungen in der
Fantasiewelt von Schriftstellern verbringen Figuren ihre Tage,
die nie wirklich gelebt haben, die nie die Welt bereist haben,
die nicht kämpfen und nicht umkommen und nicht
triumphieren, diese Figuren sind der Traum eines
Schlaflosen; Gesichter und Körper, die man beim Aufwachen
erahnt und in Tagen, Wochen, Monaten der Anstrengung vor
dem zu beschreibenden Blatt um sich versammelt.
Im Grunde müsste man, wenn das möglich wäre, jeden Tag
fremde Wohnungen aufsuchen, um Fragen zu stellen, an die
Türen zu klopfen und sich zu erkundigen, was gerade
vorgeht, ihren Bewohnern ins Gesicht sehen, um sich ihre
Falten, ihre strahlenden Augen, die von der Arbeit müden
Hemden, die zerschlissenen Jeans, die für das
bevorstehende Fest bereitgelegten neuen Kleider
einzuprägen und davon zu erzählen. Geht in fremde
Wohnungen – sagt der Schriftsteller, der viele Bücher
veröffentlicht hat, zu seinen Kollegen, die noch am Anfang
stehen – macht euch keine Illusionen, ganze Welten in eurem
Kopf kreieren zu können, ohne die echte Welt gesehen zu
haben, ohne eure Schuhe in den Straßen von Neapel, New
York oder Venedig durchgelaufen zu haben, eure Aufgabe ist
es, unterwegs zu sein, mit Menschen zu sprechen, ihnen
zuzuhören, Gespräche zu sammeln, neugierig zu sein,
jederzeit bereit zum Aufbruch. In fremden Wohnungen, hinter
den verschlossenen Türen, sei es hinter den zum Central Park
hin aufgerissenen Fenstern, im dritten Stockwerk eines
Gebäudes neben dem Dom von Neapel, auf diesem Balkon
mit Blick auf eine Kirche in Venedig; in diesen fremden
Wohnungen wärmt ein Vater gerade die Milch für das sehnlich
erwartete Kind, das endlich zur Welt gekommen ist, liest eine
wunderschöne Frau eine Mail einer verflossenen Liebe,
umarmt sich ein heimliches Liebespaar, bereitet eine Lehrerin
ihre letzte Stunde vor ihrer Pensionierung vor; hinter den
Türen fremder Wohnungen wird geboren und gestorben,
werden Umzüge, Reisen, Trennungen und Neuanfänge
geplant, werden Anklagen und Gegenklagen erhoben, wird
um Vergebung gebeten und ewige Liebe geschworen.
Ich bin Schriftsteller, es ist das Licht, an das ich mich
gewöhnlich erinnere, und die Stimmen. Das Licht, das durch
die Fenster fremder Wohnungen nach draußen dringt, wenn
ich nachmittags durch die belebten Straßen gehe oder nachts
durch die menschenleeren, das war schon immer eine Qual
für mich, nicht an die Türen klopfen und um Einlass bitten zu
können, um mir erzählen zu lassen, was gerade vorgeht und
wenn gerade nichts vorgeht, wem gehört dieses Licht?,
einem, der sich gerade ausruht oder einem, der gerade ein
Fest vorbereitet?, einem gelangweilten Ehemann oder einem
Sohn, der sich bereit macht für eine lange Reise?
Ich könnte mir keinen schöneren Job vorstellen, als in
verschiedene Städte der Welt geschickt zu werden, um an die
Türen von Unbekannten zu klopfen, denen es eine Freude ist,
mir zu öffnen und meine Fragen zu beantworten. „Ich heiße
Olya und bin gebürtige Russin, ich lebe schon lange in New
York und New York wird immer meine Stadt sein. Diese
Wohnung, die ich gekauft habe, geht auf einen Park
beziehungsweise Spazierweg namens High Line. Ich habe die
Vorhänge abgenommen, es ist wie ein Spektakel, das ich der
Stadt schenke, die mir so viel geschenkt hat.“ Wahre
Geschichten zu schreiben, von echten Menschen, die wie alle
anderen in mehr oder weniger gewöhnlichen Wohnungen
leben, für die sie in bar bezahlt oder einen dreißigjährigen
Kredit aufgenommen haben, Geschichten zu schreiben,
nachdem ich Männern und Frauen ins Gesicht gesehen habe,
die ich einen Augenblick zuvor noch gar nicht kannte – das ist
es, was ich für Foscarini gemacht habe. Von dem Licht in
ihren Wohnungen erzählt Gianluca Vassallo, der wie ich von
einer Insel kommt und dieses unheilbare Leiden hat, alles
jenseits unseres Meeres sehen zu wollen, seine Schuhe in
den Großstädten der Welt durchlaufen zu wollen. Von Licht
kann man in Worten nicht erzählen, aber vom Leben schon,
und das habe ich versucht, wohl wissend, dass das Leben
immer gewaltiger ist als die Worte, aber was bleibt einem
sonst, wenn man versuchen will, nicht vergeblich gelebt zu
haben, letztlich nur das: mit Worten und Geschichten etwas
zu erzählen, soweit das möglich ist, für den Fall, dass jemand
bereit ist, dem wahren Leben Zeit zu stehlen, um sie zu lesen.
DE s.045
JEDER WINKEL DER STADT
IST MEIN ZUHAUSE
Nicht jeder in Venedig hatte das Glück, in einer geräumigen
Umgebung aufzuwachsen. Paolo schon, als Kind und
Jugendlicher wohnte er in einer wunderschönen Wohnung im
Piano nobile eines Palazzo gegenüber der Kirche San Nicola
da Tolentino. „Direkt hier gegenüber“, zeigt Paolo vom Balkon
der Wohnung aus, in der er heute mit seiner Frau und seinen
zwei Kindern wohnt. Von hier hat er Blick auf den Kanal und
den Palazzo, in dem er aufgewachsen ist. „Als Isa und ich vor
einundzwanzig Jahren geheiratet haben, haben wir eine
schöne, aber zumindest für mein Empfinden etwas kleine
Wohnung nicht weit von hier gekauft. Aber ich habe diese
Wohnung im Auge behalten, vielleicht war sie schon immer
eine fixe Idee von mir. Ich sah sie als Kind von der Wohnung
meiner Eltern aus und dachte mir, dass ich sie eines Tages
kaufen und renovieren würde, dass ich einmal dort wohnen
würde.“ Eine Wohnung an einem so außergewöhnlichen Ort
zu renovieren, kann ein schwieriges Unterfangen, eine
Herausforderung, ein Wahnsinn, ein Abenteuer sein. „Die
Wohnung war zwanzig Jahre leer gestanden, weil sie einer
öffentlichen Behörde gehörte und man sich nicht
entschließen konnte, zu renovieren oder zu verkaufen.
Letztlich gab es eine Ausschreibung, an der nur ich
teilgenommen habe – ein wenig gegen den Willen meiner
Frau – und die ich gewonnen habe. Der vorherige Eigentümer
hatte die Wohnung unter Missachtung aller Vorschriften
umgebaut und kleine Badezimmer und Schlafzimmer zur
Vermietung an Touristen eingerichtet, die Wohnung war eine
baufällige Ruine. So wurde sie auch von unserer Bank
klassifiziert, als baufällige Ruine.“ Heute ist die Wohnung von
Isa und Paolo ein Traum aus Licht und offenem Raum, die
alten Farben, Fresken und Dekorationen an den Wänden und
Decken wurden restauriert.„ Wir mussten uns für alles an
Restaurateure und Fachleute wenden, wir haben die
Anweisungen des Denkmalamts befolgt, es hat lange
gedauert, wir mussten viel Geduld haben.“ Paolo ist Pendler,
jeden Morgen fährt er mit dem Auto aus der Lagune aufs
Festland und am Abend wieder zurück. Dennoch hat er nie
versucht, wegzuziehen. „ Ich fühle mich sofort zu Hause,
wenn ich zurück nach Venedig komme, egal wo ich vorher
war. Wenn ich hier in der Stadt bin, egal in welchem Teil der
Stadt, bin ich zu Hause. Venedig ist anstrengend, die Stadt
läuft Gefahr, bald keine mehr zu sein, weil der Tourismus die
Einwohner verdrängt, aufs Festland treibt. Eine Stadt besteht
nicht nur aus Gebäuden und Plätzen, es sind die Menschen,
die hier leben, die Einwohner, ihr Dialekt, ihre Lebenswege,
ihre Begegnungen und ihr Sich-füreinander-Entscheiden, die
eine Stadt ausmachen. Ich habe nichts gegen den Tourismus,
wir Venezianer haben unsere Orte, unsere Lokale. Aber es
schmerzt mich, dass ein Geschäft immer mehr dem nächsten
gleicht. Venedig ist klein, aber sehr international. Hier leben
Studenten aus aller Welt, Wissenschaftler, Künstler, Ausländer.
Es ist eine Stadt, in der die Welt vorbeikommt, nicht wie
irgendwo in der Provinz, wo man sich gegenseitig kontrolliert.
Hier kann man sich anziehen, wie man will, und niemand
achtet darauf. “Venedig ist ein Fisch, schreibt der Autor
Tiziano Scarpa. Und das wird so bleiben, solange die
Bewohner der Stadt ihr die Kraft geben, zu schwimmen, ohne
sich von der Stelle zu bewegen, sich in der Lagune und den
Träumen der Menschen zu spiegeln. Solange es Verrückte
wie Paolo und Isa gibt, die alte Wohnungen renovieren und
mit Leben füllen.
DE s.065
ICH WAR EIN KLEINER OLIVENBAUM,
GEZEUGT VON IONISCHEN WINDEN
„Ihr Sarden habt einen ausgeprägten Sinn für Religiöses“,
meint Maria zu mir. Ich bleibe stehen – wir spazieren gerade
durch einen eleganten, aufgeräumten, ruhigen Stadtteil von
Neapel – ich bleibe stehen, sehe sie an, schüttle den Kopf.
„Nein, ich bitte dich. Die Sarden gibt es nicht“, antworte ich
ihr. Alle Sarden sind unterschiedlich, so wie die Neapolitaner.
Nur wer noch nie in Neapel war, denkt, dass ganz Neapel
gleich ist. Dass es die typischen Neapolitaner gibt, die
neapolitanische Lebensart. Die Stadt ist viel zu gigantisch,
um sich auf zwei oder drei Stereotypen reduzieren zu lassen
Texts by Flavio Soriga
German
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