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Mastery
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Maestrie
war Industriekultur universell
zugänglich und ihre
Technologie in vereinfachter
und abgefl achter Form auf
allen Breitengraden der
Welt verfügbar.
Zur selben Zeit beschränkte
sich die Designkultur in einer
übersättigten Welt ohne neue
funktionelle Anforderungen
(oder zumindest einer Welt,
in der das Angebot an
Designprodukten die Nachfrage
überstieg) auf „banale“
Projekte, deren Innovation
in kontinuierlichen, doch
minimalen Schritten vorwärts
bestand.
Beide Entwicklungen ebneten
dem Design praktisch eine
„Autobahn“ in Richtung
Vereinfachung, führten
allerdings zugleich zur
Verbreitung bedenklich
homogener Produkte.
Was von all dem jedoch
unberührt zu bleiben schien,
war das Qualitätshandwerk,
das in der industriellen
Verarbeitung weiterhin
seinen Platz hatte. Dort
war es nach wie vor der
einzelne Handwerker, der
Entscheidendes bewegen
konnte, indem er noch
weitgehend unbekannte
Lösungsansätze und sein
manuelles Geschick einbrachte.
Beides begann nun wieder
verstärkt eine Rolle zu
spielen – als Faktor, der den
entscheidenden Unterschied
ausmachen konnte und als
antikes, bisher verborgenes
Erbe. Als dann bei einigen
Produkten im ersten Jahrzehnt
des neuen Jahrhunderts die
industriellen Verkaufszahlen
einiger Unternehmen soweit
zurückgegangen waren, dass
sie sich auf ein paar Dutzend
beliefen, wurde auch die
Zahlenfrage relativ.
Zugleich war die Bedeutung
der Rolle des Handwerkers
wieder ins Licht der
Öff entlichkeit gerückt.
2.
Die zentrale Frage lautet
damit: Wer betreibt heute
Forschung? Wer beschäftigt
sich mit Komplexität?
Die Mega-Marken, die
zu Beginn des Jahrhunderts
entstanden, hatten andere
Sorgen. Sie wurden gegründet,
weil man das Kapitel „Vertrieb“
in der Designbranche in
Ordnung bringen wollte, jene
40 oder 50 %, die mit der
Öff nung des globalen Markts
besondere Probleme oder
auch Gelegenheiten boten.
Ihr Zusammenschluss erfolgte
jedenfalls bestimmt nicht,
um gezielt produktorientierte
Forschung zu betreiben.
Die Vorteile der
Massenproduktion machten
Markenidentität und
Rationalisierung zum zentralen
Thema der neuen Strukturen.
Doch das Produkt, das aus
dieser Konzentration der
Marken entstand, erinnerte
unweigerlich an Erzeugnisse
aus dem Objektbereich.
Ideal für Großlieferungen,
nicht schön und nicht
hässlich, warenkundlich
betrachtet einwandfrei, das
ja, aber auch platt genug, um
unberechenbare Ausreißer zu
vermeiden: Erfolg durch eine
Art „nicht näher bestimmtes
Qualitätsprodukt“.
Um all dem zu entkommen,
blieb noch der Handwerker.
Er war der einzige, der mit
seiner einfachen und fl exiblen
Herangehensweise nach wie
vor Qualität und Einzigartigkeit
sowie Just-in-Time-Produktion
zu gemäßigten Kosten bieten
konnte. Hier war noch Raum
für Fehler wie auch Projekte,
die zu keinem nachhaltigen
Abschluss gebracht werden
konnten. Zugleich erforderte
diese Experimentierphase keine
übertriebenen Investitionen
– in einer Marktsituation,
die in den vergangenen zehn
Jahren bereits relativ schwierig
geworden war. Der Handwerker
war der einzige, der sich noch
auf gewisse „unvernünftige“
Herausforderungen einlassen
konnte, die eventuell auch aus
abgelegenen Orten in fernen
Schwellenländern kamen.
Er konnte sie ein erstes Mal
umsetzen und vielleicht wenig
später mit einer minimalen
Abänderung reproduzieren.
Alternativ konnte er sich
auch auf Einzelstücke und
Maßarbeiten konzentrieren,
wo Prototyp und fertiges
Produkt bei einer Aufl age von
einem Stück dasselbe waren
und meist einen hohen Grad
an Komplexität aufwiesen.
In all diesen Bereichen
präsentierte sich Italien
überaus fortschrittlich, ganz
im Sinne Luigi Pasinettis, der
festhielt: „Der Reichtum einer
Industrienation ist etwas völlig
anderes als der Reichtum
vorindustrieller Nationen, oder
besser gesagt, er geht darüber
hinaus. Er besteht weniger im
Reichtum der Güter, die sie
besitzt, als vielmehr in den
technischen Fähigkeiten, diese
zu produzieren“ (1).
Aus einer anderen
Perspektive, jener der
Kunstkritik, beobachtete dies
während der Zeit der großen
industriellen Expansion Ende
der siebziger Jahre auch
Pierre Restany.
Er erkannte die Bedeutung
dieser handwerklichen
Kompetenz und hielt fest, dass
es den Italienern gelungen war,
zu perfekten „Kunsttischlern für
Kunststoff e“ zu werden,
die die „Intelligenz des
Materials“ begriff en hatten.
Eine Feststellung, die sich
später auch in Bezug auf alle
weiteren neuen Werkstoff e
würde treff en lassen, die nach
und nach folgten. Jeder Form
der technischen Innovation
konnte stets auch aus der
Perspektive eines Kunsttischlers
begegnet werden.
Es genügte, bestimmte
Schritte der Produktion
auszugliedern, damit
diese oder jene Phase des
Projekts auf bestmögliche
Weise durchgeführt wurde,
um sie anschließend in die
nachfolgenden Phasen der
Fertigungskette zu schicken.
Das Ergebnis war
eine Fertigungsstraße
mit unterschiedlichen
Geschwindigkeiten in den
einzelnen Phasen, die es
jedoch ermöglichte, auf
quasi natürliche Weise
vom einen in den anderen
Verarbeitungsbereich zu
wechseln. Wie beim Schneiden
eines Films gelang es so,
unterschiedliche „Szenen“
miteinander zu verbinden,
deren Beziehungen und
Berührungspunkte auf einem
gemeinsamen Qualitätsprinzip
beruhten.
3.
Für die analytische
Betrachtung der Designkultur
von Foscarini konzentrieren
wir uns hier auf drei schlanke
Produktionsbetriebe, die für
drei verschiedene Formen von
Materialkultur stehen.
Diese Unternehmen folgen
heute eindeutig den
Entwicklungen der modernen
Projektkultur. Entwicklungen,
die eine kontinuierliche
Veränderung des Materials
mit sich bringen, wobei
sich insbesondere dessen
Anwendungsbereiche verlagern
– als ob das Material selbst
im neuen Jahrhundert eine
zweite Bedeutung erlangen
würde. Dieses Material ist kein
Material mehr, sondern ein
Werkstoff , der durch industrielle
Bearbeitung verändert wurde.
Diese liefert uns ein
Sekundärprodukt, in
gewisser Art ein Hybrid,
eine Halbfertigware, die sich
immer noch weiter in etwas
anderes umwandeln lässt.
Aufgrund dessen beständiger
Transformation wird die
Qualität dieses Produkts
nicht mehr durch seine
Substanz bestimmt, sondern
durch die Möglichkeiten
und die Vielseitigkeit, die es
bietet und die im Idealfall
auf der Kombination von
Widerstandsfähigkeit +
Leichtigkeit + Elastizität
beruhen.
Crea, Vetrofond und FAPS
sind die drei Unternehmen,
um die es hier gehen soll.
Sie zählen 7, 47 und 35
Mitarbeiter, hinzu kommen
deren Eigentümer – einer,
maximal zwei pro Unternehmen.
Zement, Glas und Kohlenstoff -
Faser sind ihre Werkstoff e.
Sie zeigen, wie Material im
21. Jahrhundert eine neue
Bedeutung erhält, begleitet
von einer entsprechenden
Phase der Umstellung und
Neupositionierung der Industrie.
Das Jahr 1945 ist lange vorbei
und die Art der Umstellung
ist daher nicht jene von
Iso, wo man von Kesseln zu
Motorrädern wechselte, und
auch nicht jene von Piaggio,
das von der Schalenverkleidung
der Bomber auf Motorroller
umschwenkte.
Es geht um einen Weg, das
Produktionskonzept des
Unternehmens neu zu denken,
das sich infolge der Umbrüche
auf dem Markt im Laufe
der vergangenen fünfzehn
Jahre entwickelt hat.
Es geht um einen Wechsel
der Perspektive innerhalb des
eigenen Tätigkeitsbereichs.
Aber auch wenn zum Zweck
dieser Umstellung ein
Perspektivenwechsel erfolgt,
bleibt das Thema „industrielles
Handwerk“ aktuell, da auch
der entscheidende Akteur
– eine geradezu klassische
Figur in der italienischen
Designbranche – derselbe
bleibt.
Es ist dies die vielseitige
Figur des Arbeiters/
Handwerkers, des Eigentümers/
Designers, des Herstellers/
Verlegers, die erneut die
Bühne betritt. Es ist typisch
italienisch, eine Art universellen
„Problemlöser“ für das
gesamte Feld zu erfi nden,
der zugleich die Bereiche
Technik und Design, Detail
und Leistung, qualitativ
starke Zulieferung und
Konzentration unterschiedlicher
Verarbeitungen abdeckt.
Es sind diese Schlüsselfi guren,
die in unserer Geschichte
eine zentrale Rolle spielen.
Wie etwa Natale Cappellaro,
Arbeiter bei Olivetti, der
zu Beginn als Monteur für
die Schreibmaschine MP1
tätig ist und später als
Entwickler die revolutionären
Multifunktionsrechenmaschinen
entwirft.
Oder Ingenieur Carlo Barassi,
der während des Zweiten
Weltkriegs mit Schaumgummi-
Protektoren für Bombertanks
beginnt und dann mit Arfl ex
zunächst neue Autositze aus
Elastomeren und schließlich
Polstermöbel fertigt.
Oder auch wie Enrico
Garbarino, der sich von Ettore
Sottsass überzeugen lässt,
die Produktion von „falschen“
Oberfl ächen aus Laminat
zu wagen, Sperrholz- und
Spanplatten mit Melaminharz
kombiniert und so Abet Print
begründet.
Mit seiner Entscheidung,
auf Crea, Vetrofond und FAPS
zu setzen, beweist Foscarini
seinen Glauben an dieses
Konzept.
Crea wurde von Giovanni
Piccinelli ins Leben gerufen,
der nach seinen Erfahrungen
als Betonwerker in der Schweiz
– der Heimat des Sichtbetons
und dessen raffi niertester
Bearbeitungsformen – sein
eigenes Unternehmen in
Darfo Boario eröff net.
Die Produktion konzentriert
sich zunächst auf Bauteile
und Baukomponenten aus
Beton, bis Ende der neunziger
Jahre die Baukrise den Markt
erschüttert. Piccinelli steht
kurz davor, alles aufzugeben
und zum Zeitvertreib Vasen
zu fertigen. Doch gerade zu
diesem Zeitpunkt beginnen
vermehrt Aufträge für die
Fertigung von Leuchten und
Einrichtungsgegenständen für
den Außenbereich einzutrudeln.
Bei kleineren Produkten sind
auch die Risiken geringer,
denkt Piccinelli, und nimmt
die Herausforderung an.
Dank seiner Erfahrung mit
den Schwierigkeiten beim
Entformen und mit Problemen
bei Hinterschnitten gelingt ihm
dieser radikale Wechsel in eine
neue „Größenordnung“ ohne
größere Mühe.
Gleichzeitig bleibt
das Unternehmen seiner
Tradition im Bereich der
Betonbauteile treu, verlagert
die laufende Produktion von
Schwellen, Randsteinen und
Balustraden allerdings hin zu
Spezialaufträgen nach Maß.
Für Vittorio Moretti und seine
von Mario Botta in Suvereto
entworfenen Kellerei Petra
wagt Piccinelli zudem ein
Hasardeurspiel: Er stellt sich
der Herausforderung, 200
Stahlsäulen zu verkleiden.
Seine 200 gerippten
Betonummantelungen mit
jeweils 3,8 Metern Höhe und
1,5 Tonnen Gewicht sind ein
eindrucksvolles Beispiel für
das Design von Bauteilen.
Mit einem scheinbar
unmöglichen Projekt – der
Leuchte Aplomb mit ihrem
Schirm aus Zement, entworfen
von Lucidi e Pevere –
beginnt schließlich auch die
Zusammenarbeit mit Foscarini.
Bis dahin hatte Crea
seine Gussformen bei einem
Formenbauer aus dem
Raum Bergamo in Auftrag
gegeben. Doch für diesen
Zulieferer bedeutete eine so
kleine und zarte Form wie
der kegelförmige Schirm
von Aplomb in erster Linie
einen lästigen Mehraufwand.
Als der Formenbauer dann
seine baldige Pensionierung
ankündigt, befi ndet
Piccinelli, dass es das
Fertigungsverfahren wesentlich
vereinfachen würde, wenn
er sich die für den Formenbau
notwendigen Techniken zu
eigen machte. Und das tut er.
Da es zu viele Ungewissheiten
mit sich bringt, für eine so
spezielle Projektphase von
einem Zulieferer abhängig
zu sein, lernt Picinelli selbst
Gussformen herzustellen – in
jener Halle des Unternehmens,
in der auch die Formen aus
Gummi und Silikon gefertigt
werden. Ausschlaggebend
dafür sind weniger die Kosten
für eine Form (zwischen 600
und 700 Euro), als vielmehr
der Zeitverlust und der
Nachteil, die Entwicklung
des Projekts nicht „im Haus“
mitverfolgen zu können.
Da es sich um ein Produkt
handelt, das kontinuierlich
überarbeitet wird und dessen
Fertigung zum Teil viel Zeit
erfordert, ist es besser,
unmittelbaren Zugriff darauf
zu haben. Tatsächlich bedarf
es zwischen 200 und 300
Probeleuchten, bevor man
die endgültige Lösung für
Aplomb fi ndet.
Doch während man zu
Beginn für die Leuchte mit
etwa fünf Formen arbeitet, sind
es heute etwa 45.
In dem kleinen 7-Mann-
Betrieb sind drei Arbeiter für
die Fertigung von Aplomb
zuständig (Vasile, Radu und
Mamadou). Zwei von ihnen
übernehmen das Gießen, einer
die Feinbearbeitung.
Die Arbeiter kümmern sich
um das Gießen und die
darauff olgenden Schritte, doch
an der Prototypenentwicklung
sind sie nicht beteiligt.
Es sind Giovanni Piccinellis
Söhne Ottavio (Produktion)
und Carlo (Entwicklung
und Vertrieb), mit denen
der schwierige Wechsel
zur Fertigung von
Haushaltsgegenständen
beginnt. Vor allem das
Sandstrahlen erfordert
besondere Sorgfalt, um eine
kontrollierte Unregelmäßigkeit
der Kornverteilung und der
off enen Poren im Zement des
Schirms zu erzielen.
Auf dieses Detail nehmen
die Arbeiter zu Beginn
wenig Rücksicht und
betrachten den Vorgang als
Zeitverschwendung.
Ottavio beschließt daher,
die drei für die Leuchte
zuständigen Arbeiter auf
die Mailänder Möbelmesse
mitzunehmen. Sie sollen
verstehen, dass diese Objekte