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Mastery
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Maestrie
DE → Virtuosität — In
der vierten industriellen
Revolution ist die Welt
des italienischen Designs
aufgerufen, ihren
„Humanismus“ wiederzufi nden
und die Idee einer rein
technologisch orientierten
Produktion hinter sich
zu lassen.
“Das kann man nicht
machen” — Warum dieses
Buch — Carlo Urbinati,
Foscarini Founder
and President
p. 004
Foscarini setzt Design-
und Lichtideen um, die ohne
jede Produktionsbeschränkung
aus der Freiheit von Forschung,
Ausdruck und Entwicklung
entstehen. Foscarini ist
nämlich seit seiner Gründung
ein Unternehmen ohne
Fabrik, also frei, um für die
Umsetzung jeder neuen
Idee geeignete Materialien
und Produktionstechniken
zu erforschen und damit
Handwerksbetriebe im Gebiet
zu betrauen. Manchmal passiert
es, dass die Präsentation
eines unserer Entwürfe ein
entschiedenes: „Das kann man
nicht machen“ erntet: Wir von
Foscarni hoffen dann, dass
wir auf dem richtigen Weg
sind, denn wir haben gelernt,
dass dieser Satz oft „Das
haben wir noch nie gemacht“
bedeutet. Mit dem Vorteil, nicht
den Grund dafür zu kennen,
beginnen wir gemeinsam
Möglichkeiten, Geheimnisse
und Gefahren alter oder neuer
Technologien zu erforschen.
Dieses Buch erzählt anhand
des Fotoprojekts von Gianluca
Vassallo und der kritischen
Beiträge von zwei Experten,
Stefano Micelli, Ökonom,
und Manolo de Giorgi,
Designkritiker, wie einige
dieser Ideen zu erfolgreichen
Produkten wurden.
Wir haben sie gebeten, die
Begegnung zwischen Foscarini,
den Designern und den
Handwerksbetrieben, dem
wahren Schatz des italienischen
„Made in Italy“-Designs,
darzustellen.
Wir sind stets von den
einzigartigen Dingen fasziniert,
die man mit den Händen
kreieren kann, und von der
Tatsache, dass man zu oft
vergisst, wie anziehend und
wichtig sie sind.
Making Design
(Design heute) — Stefano
Micelli, p. 008
Die Entstehung einer
Leuchte
Um mehr über die
Entstehungsgeschichte von Mite
zu erfahren, treff e ich Marc
Sadler in der Fertigungsstätte
von FAPS – jenem Unternehmen
in Fiume Veneto in der Provinz
Pordenone, wo die Leuchte
entwickelt wurde und bis heute
gefertigt wird. Die Planung und
Entwicklung von Mite reicht
bis zum Ende der 1990er-Jahre
zurück. Den Ausgangspunkt für
das Projekt lieferten die neuen
Möglichkeiten innovativer
Materialien wie Glas- und
Kohlenstoff -Faser. Sadler
hatte bereits einen Prototypen
entwickelt: eine Stehleuchte
mit einem Autoscheinwerfer
an der Spitze. Eine Idee, die
es wert war, sie zusammen mit
jemandem weiterzuentwickeln,
der die entsprechenden
Materialien kannte und
verarbeiten konnte.
Unser Gespräch beginnt im
kleinen Sitzungssaal neben dem
Eingang des Unternehmens.
Doch schon nach wenigen
Minuten gehen wir weiter, um
uns einige der Arbeitsschritte,
die der Leuchte noch heute
ihre Form verleihen, aus der
Nähe anzusehen. Uns begleiten
Maurizio Onofri, Eigentümer
von FAPS, und Giorgio Valeri,
der in den vergangenen
Jahren die Versuche von Sadler
begleitete.
Die von den Technikern von
FAPS eigens angepassten
Maschinen aus nächster Nähe
zu sehen, die Arbeiterinnen
dabei zu beobachten, wie sie
mit gekonnten Handgriff en,
ähnlich denen einer
Schneiderin, die Fasern von
Mite ausstreichen, bevor diese
in eine Art Ofen kommen,
und bei der abschließenden
Fertigstellung des Produkts
dabei zu sein, hilft mir, das
Projekt Mite besser
zu verstehen.
Aber gehen wir einen
Schritt zurück und werfen wir
einen genaueren Blick auf
FAPS. Das Unternehmen setzt
Ende der 1980er-Jahre auf
Verbundwerkstoff e – damals
eine absolute Neuheit.
Nach umfangreichen
Überlegungen zur möglichen
Nutzung dieser Innovation
entschließt man sich, in die
Produktion von Sportangeln
zu investieren – bis zu 15
Meter lange Ruten, die
sich durch hohe Stabilität
und ein geringes Gewicht
auszeichnen. Die Herstellung
von Angelruten sowie andere
Formen der Verarbeitung von
Kohlenstoff -Fasern für externe
Auftraggeber sind für einige
Jahre das Hauptgeschäft des
„Start-up“-Unternehmens.
Ende der 1990er-Jahre beginnt
man, Verbundwerkstoff e
auch im Bereich der
Möbelherstellung einzusetzen.
Das Potenzial von Glas- und
Kohlenstoff -Fasern wird
nunmehr nicht allein zur
Fertigung von Produkten
mit besonderen technischen
Eigenschaften genutzt, sondern
auch für andere Zwecke, nicht
zuletzt zur Entwicklung von
neuen ästhetischen Lösungen.
Vor diesem Hintergrund beginnt
die Zusammenarbeit zwischen
Foscarini und Marc Sadler.
Während wir zwischen den
Maschinen und Handwerkern
von FAPS umhergehen,
erzählt Sadler von den
Diskussionen zwischen ihm
und Maurizio Onofri und von
der Leidenschaft, mit der der
Unternehmer drei Jahre lang
die ebenso anstrengenden
wie faszinierenden Versuche
begleitete. Es ist schwer,
sich ein multinationales
Unternehmen mit einer
wachsamen Controlling-
Abteilung vorzustellen, das
so aufwändige und teure
Versuchsreihen zulässt.
Es braucht auch immer wieder
ein „Höchstmaß an Unvernunft“,
um die tatsächlichen
Möglichkeiten eines Materials
und einer Technologie zu
entdecken, erinnert sich Sadler.
Es braucht viele Samstage, an
denen man über alternative
Prototypen nachdenkt, und
viele Abende, an denen man
sich auf Wege abseits der Norm
einlässt. Damit die Aufgabe
gelingt, sind Leidenschaft und
Hartnäckigkeit erforderlich.
Aber nicht nur.
Es braucht auch ein
Unternehmen, in diesem Fall
Foscarini, das fi nanzielle und
zeitliche Grenzen setzt, damit
all diese Anstrengungen auf
ein marktfähiges Produkt
ausgerichtet werden und nicht
nur eine reine Spielerei von
Bastlern bleiben.
Nach drei mühevollen
Jahren, nach zahlreichen
Versuchen mit dem Material
und diversen Prototypen, in
denen man sich schrittweise
dem fertigen Produkt näherte,
präsentierte man schließlich die
Leuchte Mite.
Diese wurde im Jahr 2001
mit dem Compasso d’Oro
ausgezeichnet. Marc Sadler
betonte dabei stets die
Bedeutung der Arbeit von FAPS
und würdigte insbesondere den
Verdienst der Mitarbeiter,
die zu der endgültigen
Gestaltung und der Qualität
des Projekts entscheidend
beigetragen haben. Die
Arbeit der Mitarbeiter war
fundamental, und doch weiß
die Öff entlichkeit wenig
darüber, so wie auch ihre
Bedeutung oftmals schändlich
unterschätzt wird.
Das große Comeback
Die Geschichte der Leuchte
Mite ist für das italienische
Design nicht besonders
außergewöhnlich. Geht es
um die Entwicklung neuer
Produkte durch namhafte
Designer, so kann man in
Italien im Bereich der Fertigung
von Prototypen seit jeher
auf ein überraschend breites
Portfolio von Kompetenzen
zurückgreifen. Eine Vielzahl
kleiner Unternehmen und
Handwerksbetriebe ermöglicht
es, aus ersten Entwürfen
schnell dreidimensionale
Modelle zu erzeugen.
Das gilt auch für die
Lichtbranche, in der
traditionelle Werkstoff e wie
mundgeblasenes Glas ebenso
zum Einsatz kommen wie
innovative Verbundmaterialien.
Über viele Jahre waren diese
Kenntnisse ausschlaggebend
für die Entwicklung des
italienischen Designs. Ohne
dass sich daraus jedoch eine
Kultur entwickelte, in der
die unternehmerischen und
handwerklichen Akteure –
die einen wesentlichen Beitrag
zur Evolution des gesamten
Sektors geleistet haben –
Anerkennung erfuhren oder
bekannt wurden.
Heute sind wir aus
unterschiedlichen Gründen
dazu aufgerufen, über die
Bedingungen für ein neues
Narrativ nachzudenken.
Den Ausgangspunkt für
die „Neuerzählung“ des
italienischen Designs bildet
die Notwendigkeit, den Wert
der angebotenen Gegenstände
zu erklären und zu belegen
– vor dem Hintergrund eines
internationalen Markts mit
zunehmend kritischeren und
informierteren Kunden.
Wenn wir heute über
handwerkliche Arbeit
nachdenken, die hinter der
Produktion von Leuchten
wie Mite (und anderen
Produkten mit ähnlicher
Entstehungsgeschichte)
steht, dann deshalb, weil
der Käufer eines Produkts
darin die Zeichen einer
Materialkultur und eines Know-
hows erkennen möchte, die
Objekte mit Bedeutung und
historischem Bezug entstehen
lassen. Die handwerklichen
Kenntnisse und Fähigkeiten,
die die Arbeit des Designers
erweitern und ergänzen,
sind ein charakteristisches
Qualitätsmerkmal italienischer
Produkte auf dem Weltmarkt.
In einer Welt, in der es von
Ideen und Inspirationen aller
Art nur so wimmelt und die
Zahl von „Hackatons“ und
„Elevator Pitches“ beständig
steigt, muss dringend an die
Bedeutung von Unternehmen
wie FAPS erinnert werden.
Unternehmen, die in der Lage
sind, Ideen und Entwürfe
der Designer zu bereichern
und umzusetzen.
Die Fertigung von
Prototypen ist eine Aufgabe,
die sich nicht allein darauf
beschränkt, die Qualität
des Endprodukts zu sichern.
Was die Geschichte
von Mite und ähnlichen
Projekten zeigt, ist, dass der
Beitrag der produzierenden
Unternehmen und der
Handwerker auch in einer
Beurteilung der technischen
und wirtschaftlichen
Machbarkeit in Bezug auf
den Produktionsprozess
besteht. Was auf dem Markt
präsentiert wird, ist nicht nur
ein kohärentes, funktionelles
Produkt. Es ist auch ein Produkt
mit einem vernünftigen Preis-
Leistungsverhältnis.
Dank Verarbeitungsprozessen
und –techniken, die sowohl
in puncto Material als auch
Arbeitseinsatz Nachhaltigkeit
garantieren. Derjenige,
der daran mitwirkt, dem
Projekt seine endgültige
Form zu verleihen, ist
derselbe, der schließlich
für die Produktion dieses
Produkts – in kleinem oder
großem Stil – verantwortlich
zeichnet. Das besondere
Augenmerk für Aufwand und
Machbarkeit sichert damit die
wirtschaftliche Nachhaltigkeit
für den Hersteller.
Es versteht sich, dass der
dritte Erfolgsfaktor für ein
Qualitätsprodukt die Sorgfalt
ist, die der Auftraggeber der
Entwicklung des Projekts
widmet. Das Gespann
Designer/Prototypenbauer
erfährt Unterstützung,
aber auch Einschränkungen
durch den Auftraggeber.
Die Fähigkeit, eine Idee in
ihrer Entwicklung zu begleiten,
bis hin zum fertigen Produkt,
erfordert einen nicht zu
unterschätzenden Einsatz.
Die Rolle des Unternehmers/
Verlegers ist in der Dynamik
zwischen Designer und
Entwickler während aller
Phasen der Entwicklung
von entscheidender
Bedeutung. Innovative
Produkte zu entwickeln
und umzusetzen, erfordert
stets ein Aufeinandertreff en
unterschiedlicher Perspektiven
und Kenntnisse.
Das Unternehmen, das ein
Produkt auf den Markt
bringt, hat die Aufgabe, die
verschiedenen Parteien immer
wieder neu zu animieren
und dabei immer auch die
Bedürfnisse des Markts,
die Vertriebskanäle und die
Rolle der Medien im Blick
zu behalten.
Vorhang auf
Um die Bedeutung eines
Projekts wie Mite und darüber
hinaus eines großen Teils der
Produktion von Unternehmen
wie Foscarini deutlich zu
machen, ist es notwendig, das
Binom Unternehmen-Designer
zu überwinden und gleichzeitig
das handwerkliche Know-how
wieder stärker zu betonen, das
die Grundlage des Erfolgs von
Möbeln und Leuchten „Made
in Italy“ bildet. Dabei geht es
nicht um fehlenden Respekt
gegenüber den zahlreichen
Unternehmen und vielen
Designern, die die Geschichte
der Möbelproduktion in Italien
geschrieben haben. Vielmehr
soll das Panorama um ein
weiteres Element erweitert und
um eine lang unterschätzte
Komponente ergänzt werden.
Es ist an der Zeit zu erkennen,
dass dieses Element ein nur
schwer zu erklärendes Maß
an Kreativität und Vielfalt
ermöglicht. Es ist ein Faktor,
der es ermöglicht hat und
nach wie vor ermöglicht,
wirtschaftliche Ziele zu
erreichen, die im Rahmen der
traditionellen Industrien sonst
nur schwer umsetzbar sind.
Für ein Unternehmen wie
Foscarini sind die Anerkennung
und Aufwertung der Rolle
der eigenen Zulieferer in der
Entwicklungsphase wie auch
in der Fertigung ein wichtiger
Schritt. Lange dachten wir, es
wäre möglich, die Schaff ung
eines unternehmerischen
Rufs von der Produktion
abzukoppeln. Viele Jahre
betrachteten wir die Marke –
das Element, das die Werte und
Ambitionen des Unternehmens
kommuniziert – als eine Art
„Vorhang“. Die Fertigung
dahinter wurde vor den Augen
der Endkunden verborgen.
Sie galt als zu ungeordnet,
zu komplex, zu problematisch,
um in Szene gesetzt zu werden,
vielleicht sogar vor einer
internationalen Öff entlichkeit.
Die Zeiten haben
sich geändert. Wer ein
Designprodukt kauft,
möchte verstehen, warum
ein Objekt mehr kostet als
ein anderes, worin sein Wert
begründet liegt. Er gibt sich
nicht mehr mit allgemeinen
Qualitätsversprechen
zufrieden, die in Anzeigen in
Hochglanzmagazinen immer
wieder wiederholt werden.
Er möchte mehr.
Er möchte die tatsächliche
Qualität eines bestimmten
Produkts und eines bestimmten
Produktionsverfahrens
begreifen. Er möchte die
Werte und die Kultur kennen,
die hinter einem bestimmten
Erzeugnis stehen, ebenso
wie die Menschen und Orte,
die zu seiner Entstehung