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DER
CHAIRMAN
DE
1819: BOPPARDER BIEGEKUNST
Als Michael Thonet 1819 die Werkstatt seines Vaters in Boppard am malerischen Mittelrhein übernimmt, könnte
ihm eine Karriere als achtbarer Schreinermeister bevorstehen. Aber das genügt dem gerade mal 23-Jährigen
nicht. Er beginnt, mit Furnierstreifen zu experimentieren, die er in Leim kocht und zu schwungvoll geformten
Teilen aus Schichtholz verklebt. Durch das von ihm entwickelte Verfahren gelingt es Thonet schließlich, mit seinen
neuartigen „Bopparder Schlaufenfüßen“ den klassischen Sesseln des Spätbiedermeiers neuen Schwung zu
verleihen. Als er 1841 seine neuen Kreationen im Koblenzer Gewerbeverein präsentiert, wird kein Geringerer als
Österreichs Außenminister Clemens Fürst von Metternich auf sein Talent aufmerksam. Der Aristokrat, Chefdiplomat
des Wiener Kongresses und der wohl einflussreichste Politiker seiner Zeit, ist ebenfalls gebürtiger Rheinländer und
bittet Thonet zur Präsentation auf sein Schloss. „In Boppard werden Sie immer ein armer Mann bleiben. Kommen
Sie nach Wien“, soll Metternich dem Schreiner geraten haben. Tatsächlich trifft der gewiefte Politiker bei Thonet
einen Nerv. Denn schon lange machen ihm die immer zahlreicher werdenden Nachahmer seiner Ideen zu
schaffen. Ein Patent auf seine Ideen wird ihm verwehrt und die Geschäfte laufen schlecht. Ein Jahr nach seinem
Zusammentreffen mit Metternich reist Thonet nach Wien. Nach Boppard kehrt er nie wieder zurück.
1849: ERFOLG IM KAFFEEHAUS
In der österreichischen Hauptstadt wird er von Metternich herzlich empfangen und protegiert. Dieser spreche, so
Thonet in einem Brief, „mit solcher Begeisterung von unseren Sachen, dass er fast niemand zu Worte kommen ließ.“
Auch zum Kaiser wird Kontakt hergestellt. Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft erhält Thonet schließlich das
ersehnte Patent, „jede, selbst die sprödeste Gattung Holz auf chemisch-mechanischem Wege in beliebige Formen
und Schweifungen zu biegen“. Zunächst sucht der Neuling nach Kontakten und Kooperationen, denn es ist ihm
verwehrt, eine eigene Firma zu gründen. Nach sieben Jahren macht er sich dann doch selbständig, holt die
Familie nach und produziert erfolgreich eigene Möbel. Von Anna Daum, der Besitzerin des Wiener Kaffeehauses
Daum, geht der erste Großauftrag für Bugholzmöbel bei dem jungen Unternehmen ein. Thonet spürt, zur richtigen
Zeit am richtigen Ort zu sein. Die Kaffeehäuser werden immer beliebter und auch immer prächtiger in ihrer
Ausstattung. Der nächste große Erfolg lässt dann auch nicht lange auf sich warten. Von der legendären Londoner
Weltausstellung im Crystal Palace, auf der er eine Kollektion seiner noch sehr handwerklich geprägten Bugholz-
möbel zeigen darf, kehrt er 1851 mit einer Bronzemedaille und vollen Auftragsbüchern nach Wien zurück. Von
nun an nimmt die Entwicklung des Unternehmens an Fahrt auf. Am 1. November 1853 überträgt Michael Thonet
die Firma auf seine fünf Söhne und führt sie gemeinsam mit seinem Nachwuchs unter dem Namen „Gebrüder
Thonet“ weiter. Die neue Inhaberkonstellation bringt die Firma voran und erste Aufträge aus Übersee gehen ein.
Da die schichtverleimten Möbelstücke in tropischem Klima einer erhöhten Luftfeuchtigkeit ausgesetzt sind, gehen
einige sprichwörtlich „aus dem Leim“. Ein Ansporn für Thonet. Nach zahlreichen Experimenten glückt 1856 der
Versuch, massive Hölzer ohne Verleimung zu verarbeiten. Lange Rundstäbe aus Buchenholz werden unter dem
Einfluss von Wasserdampf in Form gebogen. Dieses geniale und effiziente Verfahren lässt sich Thonet umgehend
patentieren und damit beginnt der industrielle Durchbruch der Firma. Die erste Fabrik in Koritschan in Südostmähren
wird gebaut, kurz darauf folgen weitere Produktionsstätten in buchenreichen Waldregionen der Habsburger
Monarchie. Thonet plant dabei gleich den Personalzuwachs ein: Auf dem Werksgelände entstehen regelrechte
Dörfer mit der zugehörigen Infrastruktur für Arbeiter, Angestellte und deren Angehörige.
DE
MÖBEL-ERFINDER, GESCHÄFTSMANN
UND PIONIER DES INDUSTRIEDESIGNS:
VOR 225 JAHREN WURDE MICHAEL THONET
GEBOREN, VOR 150 JAHREN STARB ER.
Wasserdampf ist die zentrale Antriebskraft der frühen
Industrialisierung. Dampfloks befördern Waren und
Menschen, Dampfmaschinen bringen Webstühle, Boote
und Mühlen in Bewegung. Dampf wird dank des am
2. Juli 1796 geborenen Schreiners und Erfinders
Michael Thonet auch zum entscheidenden Faktor für
die ersten industriell gefertigten Möbelstücke. Der
Pionier erfindet Mitte des 19. Jahrhunderts ein Verfahren,
mit dem sich massive Rundstäbe aus Buchenholz zu
grazilen, geschwungenen Formen biegen lassen, und
stellt so seine berühmten Kaffeehausmöbel her.
1859: DAS PRINZIP THONET FÜHRT ZUM WELTERFOLG
Im Jahr 1859 kommt das erfolgreichste Möbelstück der Firmengeschichte auf den Markt, der Stuhl Nr. 14.
Der Stuhl besteht aus nur sechs Einzelteilen und ist perfekt auf eine schnelle industrielle Fertigung zugeschnitten,
die auf dem Patent für das Biegen von Massivholz aus dem Jahr 1856 basiert. Mit der für Thonet typischen,
geschwungenen Lehne und der runden Sitzfläche aus Rohrgeflecht ist der neue Nr. 14 nicht nur schön, sondern
auch sehr günstig. Er kostet zum Zeitpunkt seiner Entstehung gerade mal drei Gulden, so viel wie 36 Eier oder
eine Flasche guter Rotwein. Auch in Sachen Logistik erweist sich Michael Thonet als Visionär: In der Hochzeit von
Dampfschiff und Eisenbahn lässt er seine Stühle in Einzelteile zerlegt in großen Seekisten versenden: 36 Stühle
haben in einem Kubikmeter Platz und können ganz ohne Leim vor Ort zusammengeschraubt werden: Fertig ist
der „Thonet-Exportsessel“ von Welt, dem kein feuchtes Klima mehr etwas anhaben kann! Die logistische Meister-
leistung, die weltweiten Verkaufsniederlassungen in großen Metropolen und die zu seiner Zeit innovativen
Verkaufskataloge bescheren Thonet internationalen Erfolg. Als der Patriarch am 3. März 1871 stirbt, hinterlässt
er ein erfolgreiches, stabiles Firmennetzwerk mit Fabriken und Niederlassungen in ganz Europa. Der Stuhl Nr. 14
erweist sich über den Tod des Firmengründers hinaus als Prototyp nachhaltigen Designs: nachwachsender
Rohstoff, auf minimalen Verbrauch reduziert, leicht zu reparieren. Bis heute werden die Stühle über Generationen
hinweg und mit Stolz vererbt. Nicht ohne Grund wurde der 214 (ehemals Nr. 14) 2021 mit dem Deutschen
Nachhaltigkeitspreis Design ausgezeichnet.
VOM BAUHAUS BIS IN DIE GEGENWART
Die von Michael Thonet gelegte Saat – sein revolutionäres Bugholzverfahren und das innovative Baukasten-Prinzip
– geht nach seinem Tod weiter auf. Seine Söhne entwickeln „Gebrüder Thonet“ zum einem frühen Global Player
mit Filialen und Verkaufsbüros in New York, Ottawa und Moskau. Das Werk in Frankenberg, das 1889 eröffnet
wird, übersteht die beiden Weltkriege und ist noch heute in Familienbesitz: In sechster Generation fungieren
Vertreter der Familie Thonet als Gesellschafter des Unternehmens. Die schlichten und funktionalen Entwürfe des
Firmengründers prägen bis heute die DNA der Firma. Mehr noch: Längst gelten sie als Ursprung des modernen
Industriedesigns. Mit dem Aufkommen der Stahlrohrmöbel im Bauhaus-Zeitalter verzeichnet das Unternehmen
einen weiteren schwunghaften Aufstieg. Mart Stams S 33, der erste Freischwinger der Möbelgeschichte, Mies
van der Rohes S 533 oder Marcel Breuers Freischwinger-Klassiker S 32 und S 64: Es gibt kaum einen namhaften
Vertreter der „neuen Sachlichkeit“, der keinen Thonet-Stuhl entworfen hat. Thonet-Produkte von Designern wie
Egon Eiermann, Verner Panton und Piero Lissoni bis hin zu James Irvine, Stefan Diez oder Sebastian Herkner
spiegeln bis heute die bereits im 19. Jahrhundert geltenden Prinzipien des „ethischen Designs“ wider: Entwürfe
bauen aufeinander auf, einzelne Elemente lassen sich miteinander kombinieren. Ganz im Sinne der Nachhaltigkeit
ist es dem Unternehmen aus dem hessischen Frankenberg bis heute ein Anliegen, Bestehendes neu zu interpretieren
und an aktuelle Anforderungen anzupassen. Von den bescheidenen Anfängen in Boppard bis zur Gegenwart und
in die Zukunft hinein lässt die Marke Thonet den Geist ihres Gründers Michael Thonet erkennen: ein Genie, das
sich nicht verbiegen ließ, um geradlinig entwerfen zu können.
MAGAZIN 2021
GESCHICHTE / HISTORY