THONET 27
MAGAZIN 2021
KULTUR / CULTURE
26 THONET
WAS WIR WIRKLICH, WIRKLICH WOLLEN
Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an der Gemeinschaft sah der deutsch-amerikanische
Sozialphilosoph Frithjof Bergmann (1930–2021) als Säulen seines New-Work-Konzepts. Er
entwickelte es Anfang der 1980er Jahre, um der US-Autoindustrie konstruktive Alternativen zur
Massenentlassung von Arbeitern zu bieten. Diese sollten im Halbjahreswechsel zunächst wie
gewohnt angestellt arbeiten, um anschließend ebenso lange einer selbstbestimmten Tätigkeit
nachzugehen. Die „Neue Arbeit“, so hoffte er, würde Lohnarbeit langfristig überflüssig machen
oder nur noch ein Teilaspekt sein. Denn diese sei so etwas wie eine „leichte Krankheit«. Und
entsprechend einer Grippe, sage man am Mittwoch: „Bis Freitag halte ich es noch durch.“
Aus dem Initialprojekt entwickelte Bergmann zusammen mit einer Reihe von Anhängern die
New-Work-Idee. Sie propagieren ein neues Verständnis, zu dem es gehörte herauszufinden,
»was Menschen wirklich, wirklich wollen“. Bergmann nutzte dazu Befragungen der Mitarbeiter
von Autofirmen. Diese Befragungen sollten die Mitarbeiter zur Selbstermächtigung führen und
sie dazu anregen, andere Tätigkeiten zu erproben, und den Firmen so neue Geschäftsmodelle
eröffnen. Insbesondere in der Büromöbel branche und in der Gründerszene finden Bergmanns
Thesen heute ein begeistertes Echo.
Im Jahr 2006 veröffentlichten Holm Friebe und Sascha Lobo ihr Buch „Wir nennen es Arbeit“,
in dem sie der „digitalen Bohéme“ oder dem „intelligenten Leben jenseits der Festanstellung“
huldigten. Sie stellten Projekte vor, die neue Arbeitsformen ausprobierten und dabei avancierte
Technik nutzten. Der Berliner digitale Bohémien jener Zeit entsprach einem mit Laptop ausge-
statteten Freelancer, der seine weltweite unternehmerische Tätigkeit vom Café aus per WLAN
organisierte. Heute haben sich manche Cafés zu Coworking-Firmen mit angeschlossener
Unternehmensberatung weiterentwickelt. „Das Wechselspiel aus Technologie, Stadtentwicklung,
Kultur, sozialem Wandel und Politik«, heißt es bei Friebe und Lobo, „wird Lebens- und Arbeits-
formen ermöglichen und hervorbringen, die uns heute noch utopisch erscheinen.“
Der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg entwickelte Ende der 1980er Jahre das Konzept
des „dritten Ortes“. Der erste Ort ist nach seiner Auffassung die Familie, der zweite das Arbeits-
leben. Der dritte Ort dagegen ist für Oldenburg neutral, für die Zugänglichkeit gelten geringe
Hürden. Eine komfortable und einladende Atmosphäre gehört dazu, Konversation steht im
Mittelpunkt und eine spielerisch-freundliche Grundstimmung herrscht bei den Nutzern vor.
Oldenburg bezog sich bei seiner Theorie besonders auf Kaffeehäuser. Von anderen Autoren wurden
angesichts der Digitalisierung und Pandemie inzwischen vierte und gar fünfte Orte konstatiert,
die halböffentlich zugängliche, virtuelle Räume miteinbeziehen. Lassen sich Bergmanns Thesen und
Oldenburgs Beobachtungen zu einem neuen Verständnis von „Büro“ weiterentwickeln? Welche
Rolle könnte darin das Café-Szenario spielen? Sozialität, Gemeinschaft, Community haben etwas
mit Möbeln und der Agilität zu tun, die sie ermöglichen. Erst recht mit den Möbeln von Thonet.
Die seien überall dort zu finden, sagt Philipp Thonet, „wo sich Menschen treffen, wo sie sich
austauschen, kurz innehalten und mobil arbeiten.“ Thonet gehört zur fünften Generation der
namensgebenden Unternehmerfamilie. Wenn wir vom Büro oder vom Kaffeehaus sprechen, sind
das Konventionen, Verabredungen, räumliche Settings und Layouts, die ihre Kulturgeschichte
mitsichbringen. Zu den Abmachungen gehörte, dass Leben und Arbeit deutlich voneinander
geschieden waren. Das Café als dritter Ort, der weder so privat wie die Wohnung ist noch so
reglementiert wie die Arbeitssphäre, verwandelt sich in eine Spielfläche innerhalb des Büroumfelds
– das Café als Ort geistiger Produktion.
Über das Wiener Café Central schrieb Alfred Polgar 1926, Gäste seien größtenteils Leute,
„die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen«. Der Schriftsteller Hermann Kesten hat
1957 mit seinem Buch „Dichter im Café“ ein Panorama der Institution des literarischen Cafés
entwickelt. Es ist zugleich Atlas und Adressbuch der Netzwerke, die sich Autoren in aller Welt
seit dem 17. Jahrhundert schufen. Bei Kesten gehen literarische Produktion und Beobachtung
ineinander über: „Zuweilen sehe ich nichts im Café, zuweilen mit einem Blick mehr als andere
in einer Stunde. Es ist meine Welt, mein Schreibzimmer, mein Acker.“ In der vordigitalen
Epoche waren Kaffeehäuser Anlaufstationen, Rettungsinseln, Nachrichtenzentralen. Aus heutiger
Perspektive: Äquivalente für moderne soziale Netzwerke.
Ganz anders als die Literaten der 1920er und 1950er Jahre blickt die Schriftstellerin Elfriede
Jelinek auf diesen speziellen Ort. Im Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs erklärt sie: „Die
Kaffeehäuser benutze ich, um Kommunikation zu anderen herzustellen, jedoch nur gezielt und
nur für eine bestimmte Zeit.“ Autonomie tritt in den Vordergrund.
Wer früher nicht an seinem Arbeitsplatz anzutreffen war, verstieß gegen geltende Konventionen
und war im Grunde für den Büroalltag nicht zu gebrauchen. Einer der Gründe für größere
Freiheitsgrade ist, dass wir schlicht produktiver sind, wenn wir nicht nur an Ort und Stelle unsere
Bürozeit absitzen, sondern uns beim Herumgehen oder im kurzen Gespräch Informationen
einholen oder Impulse verarbeiten, um uns anschließend zu fokussieren und Tätigkeiten auszuführen,
die ohne das Abschweifen im Vorlauf nicht zu erledigen wären. Gesellschaftliche Konventionen
haben sich verändert. Die richtige Balance zwischen Leben und Arbeit gilt uns als erstrebenswert.
Einrichtungsszenarien im Büro werden heute zunehmend von der Wohnwelt beeinflusst. Und
umgekehrt dringt auch die Büroarbeit – nicht erst mit der Pandemie – ins Zuhause ein und verlangt
nach angemessener räumlicher Gestaltung.
TRIODOS BANK IN DRIEBERGEN-ZEIST, NIEDERLANDE